Frau Giffey, als Sie vor einem Jahr Ministerin wurden, galten Sie als die Anpackerin aus Neukölln, als eine, die nah dran ist an den Sorgen der Bürger. Wie nah kommen Sie den Menschen als Bundesministerin noch?
Franziska Giffey: Das ist immer noch Leitschnur meines Handelns. Wenn wir uns Gedanken machen über frühkindliche Bildung, über Kitas oder Ganztagsschulen, macht es Sinn, so oft wie möglich raus zu gehen und sich die Lage vor Ort in den Bundesländern anzusehen und zu hören: Was ist nötig, und was wünschen sich die Leute überhaupt? Das ist für mich enorm wichtig.
Sie kamen als Frau aus dem Osten ins Kabinett. Empfinden Sie es als negativ, wenn Sie jemand als Quotenfrau bezeichnet?Nein. Ich weiß, was ich kann. Ich finde es wichtig, dass wir eine gute Repräsentanz in der Bundesregierung haben, sowohl was Frauen als auch was Ostdeutsche betrifft. Ich habe überhaupt kein Problem damit, wenn deshalb nach einer passenden Person gesucht wird. Ostdeutsche sind in ganz vielen Entscheider-Kreisen absolut unterrepräsentiert. Ich würde mir wünschen, dass mehr Ostdeutsche, aber auch mehr Menschen mit Migrationshintergrund stärker in Führungspositionen vertreten sind. Da haben wir viel Nachholbedarf.
Große Unternehmen müssen sich seit 2016 Ziele für den Frauenanteil in ihren Vorständen und Führungsebenen setzen. Viele melden aber gar keine Ziele. Bislang hatte das keine Folgen. Sie haben vor einem Jahr Sanktionen angekündigt. Wann kommen die?Hier gerät oft etwas durcheinander: Eine Frauenquote gibt es nicht für Vorstände, sehr wohl aber seit 2015 für Aufsichtsräte - und da hat sie gewirkt. Wir haben nun 31 Prozent Frauen in den Aufsichtsräten. Bei den Vorständen gibt es eine Geschlechter-Verteilung von 94 Prozent Männern zu sechs Prozent Frauen. Das ist natürlich krass. Im Führungspositionengesetz steht: Unternehmen müssen über ihre Pläne zum Frauenanteil berichten. 80 Prozent der betreffenden Unternehmen melden gar nichts oder die Zielgröße „Null". Wer das nicht adäquat begründet, soll künftig mit einer Sanktion belegt werden können. Das ist eine Gesetzesänderung, die das Justizministerium mit uns gemeinsam auf den Weg bringen wird. Ich gehe davon aus, dass wir demnächst den Entwurf vorlegen werden.
Nach wie vor verdienen Frauen in Deutschland weniger als Männer. Noch dazu gibt es das Ehegattensplitting, das es steuerlich besser stellt, wenn ein Ehepartner deutlich mehr verdient. Muss das nicht mal langsam in die Mottenkiste?
Das Ehegattensplitting begünstigt tatsächlich die klassische Einverdienerfamilie: Meist geht der Mann arbeiten, die Frau bleibt zu Hause. Das entspricht oft nicht dem, was sich viele Familien wünschen: ein Modell, das Vereinbarkeit von Familie und Beruf für beide Partner unterstützt. Das ist auch ein Gerechtigkeitsthema. Die SPD hätte da gerne eine Änderung, aber das war in den Koalitionsverhandlungen nicht möglich.
Sie persönlich würden es also am liebsten sofort abschaffen?Ich bin bereit, darüber eine breite gesellschaftliche Debatte zu führen.
Stichwort Gerechtigkeit: Armut wird mit in die Wiege gelegt, das zeigen Erhebungen immer wieder. Wie lässt sich diese Struktur durchbrechen?Diese Frage ist der Ausgangspunkt für meine eigene Entscheidung gewesen, mich politisch zu engagieren. Ich habe ja viele Jahre auf lokaler Ebene im Brennpunktbezirk Berlin-Neukölln gearbeitet und europäische Förderprojekte umgesetzt. Ich habe die großen sozialen Schwierigkeiten gesehen und gesagt: Mit Projekten allein lässt sich das nicht lösen. Das kann man nur politisch. Mit einer klaren Schwerpunktsetzung und strukturellen Veränderungen. Wir dürfen nicht nur mit Sozialleistungen versorgen, sondern wir müssen Menschen auch befähigen. Das fängt mit frühkindlicher Bildung an und geht über gute Förderung in der Schule bis zur Erwachsenenbildung. Das Ziel, dass Kinder es schaffen im Leben, auch wenn zu Hause niemand die Gute-Nacht-Geschichte vorliest oder Pausenbrote schmiert, war immer mein Antrieb. Diese Kinder sind ja nicht dümmer geboren oder weniger talentiert. Wenn die Eltern sie nicht ausreichend fördern können, muss der Staat unterstützen. Wir wollen Bildungserfolg von sozialer Herkunft abkoppeln.
Wie passt es dazu, dass jetzt einige Bundesländer das Geld aus dem „Gute-Kita-Gesetz", mit dem der Bund 5,5 Milliarden Euro bis 2022 in gute Kinderbetreuung investiert, dazu nutzen wollen, die Beitragsfreiheit von Kitas zu finanzieren? Davon profitieren auch Gutverdiener. Ist das die Gerechtigkeit, von der die SPD spricht?Die SPD hat eine Grundüberzeugung: Bildung sollte für alle Kinder gebührenfrei sein und wer mehr verdient, wird an anderer Stelle über Steuern mehr belastet. Kitas sind die ersten Bildungseinrichtungen. Deshalb sollte auch hier der Eintritt frei sein. Es würde auch keiner auf die Idee kommen, dass die, die mehr Geld haben, für die Schule bezahlen.
Bei Universitäten war das der Fall.Das ist auch nicht in Ordnung gewesen. Der Anspruch, dass jedes Kind in Deutschland Bildung erhält, ohne dafür zu zahlen, ist aus meiner Sicht richtig. Im Gesetz festgeschrieben ist, dass alle Kinder, die Wohngeld und den Kinderzuschlag bekommen, von den Gebühren befreit werden. Die Kinder, die Sozialleistungen bekommen, sind ja sowieso schon befreit. Und: Überall in Deutschland sollen die Gebühren nach Einkommen gestaffelt werden. Wenn Länder darüber hinausgehen wollen, ist das möglich. Aber das Gute-Kita-Gesetz hat zwei Säulen: Weniger Gebühren und mehr Qualität. Wir haben lange mit den Ländern darüber gesprochen, was Qualität bedeutet und dann zehn Handlungsfelder für mehr Qualität definiert. Dazu gehören die Ausstattung, aber auch Öffnungszeiten oder der Personalschlüssel. Die Länder werden das Geld auch nutzen, um deutliche Qualitätsverbesserungen in ihren Kitas zu erreichen.
Ein Problem ist auch der massive Mangel an Erziehern. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft spricht von 100 000 Fachkräften, die man sofort benötige. Wie wollen Sie dieser Personalnot begegnen?Wir im Bund sehen natürlich die Herausforderung. Zunächst ist es aber ganz klar Aufgabe der Länder, Erzieherinnen und Erzieher einzustellen, zu beschäftigen und auszubilden. Das ist teilweise versäumt worden. Es sind zwar viele Kita-Plätze entstanden, aber das reicht nicht. In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der betreuten unter Dreijährigen mehr als verdoppelt. Und der Bedarf wächst weiter. Der Bund steigt jetzt zum allerersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik mit dem Gute-Kita-Gesetz in die frühkindliche Bildung ein. Von diesem Geld können die Länder auch Fachkräfte finanzieren. Zusätzlich werden wir ab Sommer eine Fachkräfteoffensive für Erzieherinnen und Erzieher starten, obwohl das eigentlich Ländersache ist. Der Bund gibt damit einen Impuls, um das Bemühen der Länder zu verstärken.
Wie sieht der aus?Wir finanzieren zusätzlich 5000 Plätze für eine praxisintegrierte und vergütete Ausbildung mit über 1000 Euro monatlich. Die Kita-Träger können sich bewerben. Wir haben schon jetzt eine enorm hohe Nachfrage. Das deckt nicht den ganzen Bedarf, aber es ist ein wichtiger Schritt. Die Länder müssen nachziehen. Bremen hat das auch erkannt.
Ihr zweites großes Projekt ist das „Starke-Familien-Gesetz". Das hat einen wertenden Namen, genau wie das „Gute-Kita-Gesetz". Warum haben Sie sich für diese Marketing-Namen entschieden?Für mich sind das keine Marketing-Namen, sondern Namen, die kurz und knackig beschreiben, worum es geht, und was das Ziel ist. Das sollte Politik eigentlich immer tun: Klar und deutlich sagen, wofür ein Gesetz eigentlich gut ist. Wir haben natürlich noch den Langtitel, das sind 23 Wörter. Den sagt man und eine halbe Stunde später kann sich niemand mehr daran erinnern. Im gleichen Atemzug beklagen wir, dass nur 30 Prozent der Berechtigten die Leistungen in Anspruch nehmen. Das wollen wir verbessern.
Sie wollen das Antragsverfahren für den Kinderzuschlag, den einkommensschwache Familien zusätzlich zum Kindergeld bekommen können, vereinfachen. Wie genau?Das beginnt schon mit dem Antragsformular: Wie ist das aufgebaut, wie lang ist das, ist die Sprache verständlich? Der Kinderzuschlag ist eine einkommensabhängige Leistung. Daher ist es notwendig, dass wir ein paar Sachen abfragen. Aber wir wollen schauen, wie das einfacher gehen kann. Mein Wunsch ist, dass der Kinderzuschlag bald auch per Smartphone beantragt werden kann.
Kritiker bemängeln, dass das Bildungs- und Teilhabepaket weiter nur zehn Euro im Monat für außerschulische Aktivitäten wie Musikverein oder Sport vorsieht.Das ist ein Thema, das wir im Regierungsentwurf noch nicht lösen konnten. Möglicherweise wird da im parlamentarischen Verfahren noch etwas passieren. Das, was im Entwurf steht, ist aber schon toll. Es ist das kostenlose Mittagessen drin, die kostenlose Schülerfahrkarte, die Lernförderung nicht erst bei Versetzungsgefährdung und das Schulstarterpaket wird erhöht von 100 auf 150 Euro. Davon können bis zu vier Millionen Kinder profitieren. Aus meiner Vor-Ort-Erfahrung weiß ich: Der eine Euro fürs Mittagessen ist oft ein Problem und mit hohem Verwaltungsaufwand verbunden.
Wie soll man von zehn Euro monatlich ein Instrument spielen? Ist das nicht auch wichtig, um vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein?Es wird derzeit im parlamentarischen Verfahren über eine Erhöhung auf 15 Euro diskutiert. Dann ist Musikunterricht sehr wohl möglich, nicht unbedingt Einzelunterricht, aber Gruppenunterricht. Und wenn Kommunen wollen, geht viel. Ich hatte in Berlin-Neukölln eine Musikschule im Brennpunkt. Wir hatten eine große Auswahl an Leihinstrumenten für Kinder, die sich kein eigenes Instrument leisten konnten.
Frau Giffey, die Freie Universität Berlin prüft derzeit, ob Ihre Doktorarbeit Plagiate enthält. Was machen Sie, wenn Ihnen Ihr Doktortitel aberkannt wird?Wir sind an einem Punkt, an dem eine anonyme Internet-Plattform Vorwürfe erhebt gegen eine Arbeit, die ich vor zehn Jahren nach bestem Wissen und Gewissen geschrieben habe. Für mich ist ganz klar: Wenn solche Vorwürfe im Raum stehen, will ich das geklärt haben. Deshalb habe ich von mir aus die Freie Universität Berlin gebeten, das zu prüfen. Das Ergebnis müssen wir jetzt abwarten.
Das Interview führte Carolin Henkenberens.Zur Person
Franziska Giffey (40) ist seit dem 14. März 2018 Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Vorher war die promovierte Politologin 16 Jahre im Berliner Bezirk Neukölln tätig, erst als Europabeauftragte, ab 2010 als Bildungsstadträtin und zuletzt drei Jahre als Bezirksbürgermeisterin. In die SPD trat sie 2007 ein. Sie stammt aus Briesen, einer Gemeinde nahe Frankfurt an der Oder, ist verheiratet und hat einen Sohn.
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