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Sexualpädagogik in Grundschulen: Wie funktioniert Verliebtsein?

Sonderpädagogin Christina Carstensen steht vor ihrer Klasse und tippt auf ein rotes Buch - "Peter, Ida und das Minimum", ein Aufklärungsklassiker. In den letzten Wochen haben sich die "Ottifanten", so heißt die Grundschulklasse, mit dem menschlichen Körper beschäftigt - Milchzähne, Haut, Wachstum. Zum Abschluss soll es um Sexualität gehen.

Auf dem Lehrerpult liegt ein Stapel Sachbücher. "Wir bekommen ein Baby" für die Erst- und Zweitklässler, bunte Aufklärungsbücher für die Größeren. An der Bugenhagenschule Groß Flottbek, einer privaten Hamburger Grundschule in kirchlicher Trägerschaft, wird inklusiv und jahrgangsübergreifend unterrichtet - Sexualpädagogik ist selbstverständlicher Teil des Lehrplans.

Die Besonderheit: Die Kinder bestimmen die Themen selbst, die Teilnahme an der Unterrichtseinheit ist freiwillig. Christina Carstensen nennt das "bedürfnisorientiert". Die jüngeren Schüler beschäftigen sich selbstständig mit den Sachbüchern über Schwangerschaft und Geburt, füllen dazu Arbeitsblätter aus und besprechen mit Lehrerin und Mitschülern ihre Erkenntnisse, Erfahrungen und Fragen.

Die Dritt- und Viertklässler stellen ihre eigenen Fragen rundum Sexualität. Die Neugier ist groß, das A3-Poster füllt sich schnell: "Warum wachsen um Scheide und Penis Haare?", "Wie geht Verhütung?", "Ab wann bekommen Mädchen ihre Tage?" "Warum haben manche Frauen große Brüste und andere kleine?" "Wie funktioniert Verliebtsein?", "Warum lieben manche Männer Männer?" Die Antworten wollen sie in den kommenden Wochen gemeinsam finden.

Sexualpädagogik ist mehr als nur Aufklärung über Sex

Seit mehr als 50 Jahren ist Sexualpädagogik Teil des staatlichen Bildungsauftrags und in allen Lehrplänen verankert. So sollen Hamburgs Grundschüler über angenehme und unpassende Berührungen sprechen. Neben sexualpädagogischen "Klassikern" wie Schwangerschaft und Babys werden auch Geschlechterrollen oder verschiedene Lebensformen thematisiert.

Dabei sieht das Schulgesetz eine "vertrauensvolle" Zusammenarbeit mit den Eltern vor. An der Bugenhagenschule war der Sexualkundeunterricht Thema auf einem Elternabend. Mit positiver Resonanz, wie Christina Carstensen berichtet. "Viele Eltern empfinden das Thema als wichtig und freuen sich, dass wir sie bei der Aufklärung unterstützen", sagt sie.

Diese Offenheit ist keinesfalls selbstverständlich. Frühe sexuelle Bildung stößt auf viel Gegenwind. Gerade erzkonservative Kreise würden den Sexualkundeunterricht am liebsten auf biologische Fortpflanzung begrenzen und Homosexualität oder andere Geschlechtsoptionen gar nicht zum Thema machen. Sie sprechen von einem "Genderwahn" in Schulen und sehen ihr traditionelles Familienbild durch Frühsexualisierung in Gefahr. Sogar die Angst, entsprechende Unterrichtsinhalte könnten homosexuelle Lebensweisen fördern, treibt manche Eltern um.

Anja Henningsen, Professorin für Sexualpädagogik an der Uni Kiel, kennt die Bedenken. "Die Ablehnung entsteht nicht nur aus sehr starren Weltbildern, sondern häufig auch aus Unwissenheit. Zeitgemäßer Sexualkundeunterricht ist weit mehr als Aufklärung über Fortpflanzung oder Sexpraktiken. Es geht um Respekt, Gefühle, Liebe, den eigenen Körper oder eben Lust", erklärt sie. Lebensbegleitende Themen, die auch Kinder interessieren. Ihre Fragen unbeantwortet zu lassen, wäre fahrlässig.

Die Kinder gehen mit offenen Augen durch die Welt

Die Neugier zeigt sich auch im Klassenzimmer der Ottifanten. Mit großer Ernsthaftigkeit berichten die Schüler über homosexuelle Paare in der Lieblingsserie, die Beziehungen des großen Bruders, die Periode der Freundin und unterschiedliche Busenformen, die sie in der Dusche des Schwimmbads sehen.

"Die Kinder sind froh drüber, in so einem geschützten Rahmen ihre Fragen stellen und eigene Sorgen ansprechen zu können", sagt Carstensen. Deshalb gibt es klare Regeln. Es wird nicht gelacht, jede Frage respektvoll behandelt. Das Besprochene bleibt im Klassenraum. Wer über ein Thema nicht reden möchte, kann sich mit anderem beschäftigen.

Der Wissensstand und die Offenheit der Kinder sind ganz unterschiedlich. Manche Schüler haben Aufklärungsbücher zu Hause, können mit ihren Eltern offen über Sexualität und Emotionen sprechen, andere werden gar nicht aufgeklärt. Für sie ist die Schule eine wichtige Institution, um mehr über ihren sich verändernden Körper und Beziehungen zu erfahren.

Dieses Wissen dient dabei nicht nur dem Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten oder ungewollten Schwangerschaften. Aus Sicht von Anja Henningsen muss sexuelle Bildung mehr leisten - zum Beispiel die Akzeptanz von sexueller Vielfalt und Geschlechterrollen, die Entwicklung eines gesunden Körperbildes und den Schutz vor Missbrauch fördern.

Aufklärung stärkt die eigenen Grenzen

Wann soll ich "Nein" sagen? Auch diese Frage steht auf dem Poster der Ottifanten. "Wir wollen darüber sprechen, was andere Menschen mit euch tun dürfen und was nicht - egal, ob Verwandte oder Fremde", sagt Carstensen und tippt auf die Seite eines Aufklärungsbuches. Eine Tante gibt darauf einen nassen Kuss, gegen den Willen der Nichte.

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Gegen Grenzüberschreitungen, ob nun durch Worte oder unangemessene Berührungen, ist Aufklärung ein bewährtes Mittel, davon ist auch Anja Henningsen überzeugt. "Aufgeklärte Kinder kennen ihre Grenzen. Es fällt ihnen leichter, 'Nein' zu sagen oder sich Hilfe zu holen, weil sie wissen, dass die Pädagogen und Eltern das Thema nicht totschweigen und ein offenes Ohr für ihre Sorgen haben", sagt sie.

Genau dafür braucht es aber kundige Lehrkräfte und sexualpädagogische Konzepte in den Schulen. Die angemessene Reaktion auf sexuelle Grenzüberschreitungen im Schulalltag, zum Beispiel durch Beleidigungen oder den Griff in den Schritt, das aufklärende Gespräch mit Kindern, all das fällt vielen Lehrkräften schwer. Oft aus mangelnder Erfahrung: Im Lehramtsstudium ist Sexualerziehung nach wie vor ein Randthema.

Auch zu den Fortbildungen der Lehrerbildungszentren und zu den Beratungsstellen von Pro Familia kommen oft die immer gleichen Schulen und Pädagogen. Mit der Konsequenz, dass es, dem staatlichen Bildungsauftrag zum Trotz, stark von der Schule und dem Klassenlehrer abhängt, ob die Fragen der Kinder beantwortet werden - oder ob der Sexualkundeunterricht einfach ausfällt.

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