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Kunstherz: Lebensretter in der Brust - SPIEGEL ONLINE - Gesundheit

Am Ende einer Nachtschicht hat Nedeljko Aleksic plötzlich starke Schmerzen in der Brust. Sofort kommt der damals 59-Jährige in die Asklepios Klinik in Hamburg St. Georg. Die niederschmetternde Diagnose: Herzinfarkt. Nur mit starken Medikamenten halten die Ärzte seinen Kreislauf stabil.

An ein normales Leben ist danach nicht mehr zu denken. Jeder Schritt schmerzt, Aleksic hat permanent Atemnot. Sein Herz ist so schwer geschädigt, dass es den Körper nicht mehr ausreichend mit Blut und Sauerstoff versorgen kann. "Aus dem bis dahin fitten Vorarbeiter wurde schlagartig ein Kandidat für eine Herztransplantation", erinnert sich Michael Schmöckel, behandelnder Chefarzt der Herzchirurgischen Abteilung in St. Georg.

Aber Spenderorgane sind rar, die Zeit auf der Warteliste würde Aleksic womöglich nicht überleben. Deshalb setzen ihm Schmöckel und seine Kollegen ein Kunstherz ein - eine nur wenige Zentimeter große Pumpe, die sie in der Spitze seiner linken Herzkammer platzieren. Das Gerät ist jetzt sein Lebensmotor. Ein dünnes Kabel verbindet das Kunstherz mit einer Steuereinheit und Akkus außerhalb des Körpers. Diese lebenswichtige Stromversorgung trägt Aleksic immer in einer schwarzen Tasche am Körper.

Jahrelang mit Kunstherz leben?

Kunstherzen gibt es in Deutschland seit drei Jahrzehnten: Vor 30 Jahren, am 7. März 1986, bekam ein sterbenskranker Patient in Berlin das weiterentwickelte sogenannte Berliner Kunstherz vom Herzchirurgen Emil Bücherl implantiert. Vier Tage überlebte der Mann mit der aufwendigen Pumpe, dann bekam er eine Transplantation. Kurze Zeit später starb er aber.

Auch mit weiterentwickelten Modellen war an Mobilität noch nicht zu denken, weil große Kompressoren die Pumpen antrieben. Ursprünglich wurden solche Unterstützungssysteme daher nur verwendet, um bei Menschen mit Herzinsuffizienz die Zeit bis zu einer Transplantation zu überbrücken. Inzwischen werden die deutlich kleineren Kunstherzen für ältere Patienten wie Aleksic - trotz der Gefahren - immer häufiger zur Dauerlösung.

Hauptgrund dafür sind die Nachwirkungen der Transplantationsskandale. Nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation wurden im Jahr 2015 nur 286 Herzen verpflanzt, zu Hochzeiten waren es mehr als 500. Dem stehen rund 500 neue Patienten gegenüber, die jährlich auf der Warteliste hinzukommen. Die Folge: 90 Prozent der Transplantationen würden inzwischen bei hochdringlichen Fällen wie Kindern unter 16 Jahren durchgeführt, sagt Schmöckel.

Ältere Patienten wie Aleksic hingegen müssten Jahre auf ein neues Herz warten. Allein mit medikamentöser Therapie hätte seine Lebenserwartung bei einem halben Jahr gelegen, sagten ihm die Hamburger Ärzte. Da war die Herzpumpe die einzig realistische Alternative.

Abhängig von der Stromquelle

Moderne Systeme pumpen bis zu zehn Liter Blut pro Minute durch den Körper, das entspricht der Leistung eines gesunden Herzens. Die Lebenserwartung der Patienten verbessert sich so deutlich. Vier von fünf Patienten mit einem solchen Unterstützungssystem überleben das erste Jahr. Ein Patient aus Sachsen-Anhalt lebt inzwischen sogar zehn Jahre mit seinem Kunstherz. Das ist europaweiter Rekord.

Aber die Pumpe bringt auch Nachteile und Pflichten mit sich. So steht alle zwei Monate ein gründlicher Check für Mensch und Technik im Krankenhaus an. Täglich müssen die Patienten außerdem Blutverdünner nehmen, die das Risiko für Blutungen stark erhöhen. Ohne sie bestünde aber die Gefahr, dass sich Blutgerinnsel im Herzen bilden und Thrombosen oder Embolien entstehen.

Empfindlich ist auch die Austrittsstelle des Versorgungskabels am Bauch. "Alle zwei Tage reinigt meine Frau die Wunde und wechselt die Pflaster", sagt Aleksic. "Dank ihrer Pflege hatte ich noch keine Entzündungen." Bei bis zu zehn Prozent aller Patienten gelangen Bakterien über das Kabel in den Bauchraum und halten sich dort hartnäckig. Im schlimmsten Fall muss das befallene Kunstherz ausgetauscht werden.

Auch die Abhängigkeit von der Stromquelle ist für die Patienten oft eine Belastung. Aleksic trägt seine Akkus immer am Gürtel, einer hält zweieinhalb Stunden. In der Nacht hängt sein Leben an der Steckdose, gleich neben dem Radiowecker. "Ich bin immer von der Technik abhängig", sagt er. "Fällt das Gerät aus oder sind die Batterien leer, würde ich sterben. Anfangs hatte ich deshalb starke Angstzustände."

"Wieder frei atmen und ein paar Schritte gehen"

Im Jahr 2015 wurden laut Schmöckel bundesweit rund 1200 Kunstherzen eingesetzt. Der Experte geht davon aus, dass die Zahl in Zukunft weiter steigen wird.Die meisten der Patienten sind schon heute über 50 Jahre alt und haben bereits länger eine chronische Herzschwäche. "In Zukunft werden Patienten wohl 20 oder sogar 30 Jahre mit der Unterstützung leben", glaubt der Mediziner. Damit würde aus der Überbrückungstechnologie endgültig eine Dauerlösung - gerade für ältere Patienten, die kaum eine Chance auf eine Transplantation haben.

"Schon kurz nach der Operation konnte ich wieder frei atmen und ein paar Schritte gehen. Das war ein tolles Gefühl, zurück im Leben zu sein", erinnert sich Aleksic. Heute, knapp vier Jahre später, führt der Rentner ein fast normales Leben. Er kann mit seiner Frau spazieren gehen, auch das Treppensteigen bereitet ihm kaum noch Probleme. Nur auf Kaffee und Zigaretten muss er verzichten. "Mein Leben hätte vorbei sein können", sagt Aleksic. "Die Ärzte haben mir ein paar zusätzliche Jahre mit meiner Familie geschenkt, und dafür bin ich ihnen sehr dankbar."

Birk Grüling, Jahrgang 1985, aufgewachsen im nieder­sächsischen Niemandsland, hat erst Mathe und dann Musikjournalismus in Hannover studiert und das Herz an Hamburg verloren. Als freier Journalist schreibt er über Wissenschaft und Gesellschaft.
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