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Wo es ums Ganze geht

Die schiitischen Milizen kämpfen im Irak gegen den IS – dabei plündern, entführen und rauben sie.

Als im Juni dieses Jahres der "Islamische Staat" (IS) scheinbar unaufhaltsam auf Bagdad vorrückte, verfasste der irakische-schiitische Großajatollah Ali al-Sistani einen Aufruf: Die Iraker müssten nun ihr Land verteidigen!

Tausende Freiwillige meldeten sich. Der Ansturm ist beispiellos für die Geschichte Iraks. Unbestätigten Schätzungen zufolge gibt es bereits mehr freiwillige irakische Kämpfer als Soldaten der irakischen Armee. Seither ist eine ganze Reihe schiitischer Milizen entstanden. Es sind so viele, dass man leicht den Überblick verlieren kann.

Der 25-jährige Mustafa ließ sich im Sommer rekrutieren. Zwei Monate lang wurde er intensiv an der Waffe ausgebildet, von morgens sechs Uhr bis mittags. Dann schickte ihn sein Kommandeur Maschid Ahmed al-Sudani zum Kämpfen in den Nordirak nach Amerli, wo schiitische Turkmenen 80 Tage lang vom IS belagert wurden und zu verhungern drohten. Mitte September konnte die 26.000 Einwohner zählende Stadt in der Nähe von Tikrit befreit werden. Jetzt wird Mustafa in die an Bagdad angrenzende Provinz Dijala entsandt, wo ebenfalls heftige Gefechte toben. Kommandeur Maschid Ahmed al-Sudani sagt, er habe zwischen 3.200 und 3.600 Mann unter seinem Kommando. Er könne sie je nach Bedarf an verschiedenen Orten einsetzen. Mustafa steht stramm, als der Kommandeur ihm letzte Anweisungen mit auf den Weg nach Dijala gibt.

Maschid Ahmed al-Sudani war noch vor vier Jahren General der irakischen Armee. Dann ist er pensioniert worden. Heute steht er einer Miliz vor, die sich "Sucur" nennt. Er sitzt an einem Schreibtisch in einem karg eingerichteten Zimmer in Bagdad. Er trägt Jeans, ein weißes Hemd, unter dem sich ein kleiner Bauch gemütlich wölbt. Die Sucur-Milizionäre kämpfen nach eigenen Angaben gegen den IS. Al-Sudani sagt, er habe schon 2006/07 gegen Al-Kaida gekämpft. "Jetzt geht es eben gegen Daisch", wie der IS auf Arabisch genannt wird. Doch dieses Mal sei der Kampf härter, der politische Kontext ein anderer. "Damals war der Terror lokal. Iraker haben gegen die Besatzer gebombt. Jetzt ist der Terror international. Es ist schlimm, dass deutsche und französische Dschihadisten uns umbringen."

Dagegen formiert sich eine international operierende schiitische Kriegskoalition. Sucur gehört zu einer Gruppe von insgesamt sechs irakischen Hisbollah-Milizen. Sie sind nicht zu verwechseln mit der libanesischen Hisbollah. Das ist die schiitische Partei im Libanon, die über eine eigene Armee verfügt. Sie hat in der Vergangenheit immer wieder im syrischen Bürgerkrieg eingegriffen, um dort ihren Verbündeten Baschar al-Assad zu stützen. Der Iran ist der Schutzherr der Hisbollah. Aus Teheran fließen seit vielen Jahren Geld und Waffen in den Libanon. Im Bagdader Büro von Al-Sudani heißt es, die Hisbollah im Irak habe nichts mit den Leuten im Libanon zu tun. Die einzige Gemeinsamkeit: "Wir sind alle Schiiten." Und doch halten sich hartnäckig Gerüchte, die libanesische Hisbollah schicke seit Kurzem Kämpfer in den Irak.

Der Chef der Sucur-Miliz schätzt, dass es derzeit etwa 35 unterschiedliche Gruppen im Irak gebe. "Allein in dieser Woche haben 600 Freiwillige bei uns angeheuert." Fast täglich sieht man auf den Straßen Bagdads neue Poster mit neuen Organisationen, die für einen Kriegseinsatz gegen den IS werben. Im Konvoi fahren die freiwilligen Rekruten durch die Stadtteile mit mehrheitlich schiitischer Bevölkerung und rufen mit Megafonen zur Nachahmung auf.

Es fehlt den Milizen weder an Männern noch an Geld. Der irakische Finanzminister Hoschjar Sebari schätzt, dass seit Juni über eine Milliarde US-Dollar von der Regierung an schiitische Milizen geflossen seien. Sebari sagt, das Geld sei völlig planlos verteilt worden. Die Regierung des inzwischen zurückgetretenen Nuri al-Maliki habe über die Ausgaben nicht Buch geführt. Und jetzt, so Sebari, stecke der Irak in der Finanzklemme. Für 2015 verspricht er einen transparenten Haushalt. Dabei will er auch die sunnitischen Stämme mit einbeziehen, die derzeit in der Provinz Anbar gegen den IS kämpfen. Er weiß, dass ohne sie der Kampf gegen den sunnitisch geprägten IS nicht zu gewinnen ist.


"Die sind schlimmer als die Regierungstruppen"

Mehr Geld für die Sunniten, das bedeutet weniger Geld für die schiitischen Milizen. Das bleibt nicht ohne Folgen. Die Menschen in den Provinzen Anbar und Dijala, die nordwestlich und nordöstlich von Bagdad liegen, beklagen sich über zunehmende Kriminalität seitens der Milizionäre. "Die sind schlimmer als die Regierungstruppen", sagte der Ex-Gouverneur von Dijala, Abdullah al-Dschuburi, nachdem er der Stadt Bakuba einen Besuch abgestattet hatte. Hätten sie einen Ort vom IS befreit, würden sie sich alles nehmen, was nicht niet- und nagelfest sei.

In einem Haus in Abu Ghraib, der letzten Stadt der Provinz Anbar vor Bagdad, fängt Jasser Mohsins zehn Monate altes Töchterchen Mina plötzlich an zu weinen. Verstört schaut sie die ausländische Besucherin an. "Die Kleine hat Angst", erklärt der Vater. "Es wird hier so viel geschossen, so viel geschrien, und so viele fremde Leute sind in der Stadt." – "Nein", vertreibt Jasser gleich den Gedanken an den IS "es sind die Schiitenmilizen, die vorgeben, uns vor denen zu beschützen." Die Milizionäre seien überall präsent. Plötzlich fingen sie an zu schießen, oft ohne Grund, pöbelten Leute in den Geschäften an, entführten Menschen und forderten Lösegeld. Neulich seien einige von ihnen in einen Handy-Shop eingedrungen, hätten alle Telefone konfisziert, den Ladenbesitzer verschleppt und 600.000 US-Dollar Lösegeld verlangt. "Die Schiitenmilizen sind das Problem für uns", sagt Mohsin, einer der wenigen Schiiten im sonst sunnitisch dominierten Abu Ghraib. Man wisse oft gar nicht, wem die bewaffneten Männer angehörten, die hier ihr Unwesen trieben.

35 Kilometer von Abu Ghraib entfernt liegt Germa, ein Vorort von Falludscha. Hier verläuft die Frontlinie zum IS. Entlang dieser 35 Kilometer kann man das "Who is who" der Schiitenmilizen besichtigen. An den unzähligen Checkpoints schieben Söldner der im Iran gegründeten Badr-Brigaden ebenso Dienst wie Männer von Asa’ib Ahl al-Haq, die sich von der ehemaligen Mahdi-Armee von Muktada al-Sadr losgelöst haben. Ihr Befehlshaber ist angeblich General Kassem Suleimani von der iranischen Al-Kuds-Brigade, einer Spezialeinheit der iranischen Revolutionsgarden. Das sind die großen drei Gruppen. Dann sind auch Kämpfer kleinerer Milizen in Anbar präsent: Al-Sudanis Sucur etwa mit 200 Mann. Soldaten der irakischen Armee sind an den Kontrollpunkten unterrepräsentiert. Es ist eine ziemlich unüberschaubare Kriegslandschaft.

Der große Test zur Rettung der Provinz Anbar aus den Fängen des IS findet jedoch 150 Kilometer weiter westlich statt. Auf der Ain-al-Assad-Militärbasis in der Nähe des Euphrat-Staudamms bei Haditha kommen derzeit Kämpfer jeglicher Herkunft und Couleur an. US-Soldaten mischen sich mit Söldnern von irakischen Schiitenmilizen. Sunnitische Stammesführer, die sich für eine Allianz mit den Regierungstruppen entschieden haben, gehen dort ein und aus. Und auch der Iran soll Mitglieder seiner Al-Kuds-Brigaden in Ain al-Assad stationiert haben, was Washington und Teheran strikt dementieren. Es wäre ja auch eine unglaubliche Geschichte, wenn iranische und amerikanische Soldaten gemeinsam auf einer Militärbasis im Irak stationiert werden – sind doch die USA und die Islamische Republik Iran seit 1979 in Feindschaft vereint. Doch heute empfinden die USA wie auch der Iran den IS als tödliche Gefahr. Die iranische Luftwaffe jedenfalls flog vergangene Woche erstmals Angriffe gegen den IS im Irak. Teheran leugnete zuerst, bestätigte dann die Luftschläge. Doch das iranische Regime schloss aus, dass es eine Kooperation mit dem Erzfeind USA gebe.

Wenn es aber keine koordinierte Zusammenarbeit zwischen all jenen gibt, die den IS bekämpfen, muss man sich fragen, wie erfolgreich dieser Kampf sein kann. Die mageren Erfolge der letzten Monate lassen Schlimmes befürchten. "In Anbar geht es ums Ganze", sagt ein Offizier der Badr-Brigaden am Kontrollposten in Germa, von wo aus man einen Blick in das vom IS ausgerufene Kalifat werfen kann. "Sollte die Provinz gänzlich in die Hand der Dschihadisten fallen, würde sich ihr Traum eines eigenen Staates tatsächlich erfüllen."


von Birgit Svensson