Heute sind die Wale immer noch bedroht - weniger durch Walfänger mit explosiven Geschossen als durch bunte und durchsichtige, weiche und feste, meist geformte synthetische Polymere auf Erdölbasis: durch Plastik. Kunststoffe sind eine der Säulen der modernen Konsumgesellschaft und ihres Strebens nach Besitz, Bequemlichkeit und Gewinnmaximierung. Aber das scheinbar preiswerte Plastik hat seinen Preis.
"Throwaway Living" - in diesem Artikel beschäftigte sich das Magazin Life schon 1955 mit den Auswüchsen der modernen Wegwerfgesellschaft. Diese erste Warnung verhallte ungehört. 1997 entdeckte der Segler und Ozeanograf Charles Moore auf dem Weg von Hawaii nach Südkalifornien in abgelegenen Gegenden des Nordpazifiks eine gigantische Insel aus treibendem Müll. Artefakte der Wegwerfgesellschaft hatten den unberührten Pazifik wie synthetische Geschwüre überwuchert. Moore und andere Meeresforscher und Umweltaktivisten erkannten die globalen Ausmasse des Problems und die Plastikflut bekam einen Namen: der Grosse Pazifische Müllstrudel. Heute wissen wir, dass es mehrere solche Strudel gibt. Allmählich erreicht das Ausmass der Katastrophe auch Politik und Öffentlichkeit. Aber die Meere und ihre Probleme sind weit weg. Meereswesen sterben leise und ungehört von der terrestrischen Zivilisation.
Kleine Teilchen mit grossen Folgen Plastikpartikel werden an Land produziert. Über Wind und Gewässer enden viele von ihnen in grossen Binnenseen oder im Meer. Wind und Wellen transportieren sie bis an die Küsten entlegener Inseln, in die tiefsten Abgründe der Ozeane und in die arktischen und antarktischen Meere. Kunststoffgegenstände entwickeln im Wasser eine ganz eigene Dynamik: Plastiktüten blähen sich zu medusen- oder tintenfischähnlichen Formen auf und werden gefressen. Vor allem Schildkröten füllen sich den Magen mit dem Müll, bis keine echte Nahrung mehr hineinpasst.
Auch immer mehr Wale fressen Plastiktüten. In den letzten Jahren sind die ersten Pottwale und Schnabelwale an den Küsten gestrandet. Die Tieftaucher jagen oft in unter tausend Metern Tiefe. Ihr Präzisionsecholot bewahrt sie nicht davor, statt proteinreicher Tintenfische im Wasser driftende Plastiktüten zu fressen. Sie kennen den Unterschied nicht und haben auch keine Zeit, ihn zu lernen: Ist der Magen einmal mit Müll gefüllt, können sie die Kunststofflast nicht wieder loswerden und verhungern.
2016 strandete vor der norwegischen Stadt Bergen ein Cuvier-Schnabelwal. Ein ungewöhnlicher Gast. Was hatte den Tiefseejäger an den Strand getrieben? Die Autopsie des abgemagerten Tiers ergab, dass sein Magen über 30 Plastiktüten mit dänischen, englischen und norwegischen Aufschriften enthielt. Für mich war das Bild des sterbenden Wals ein Schlüsselmoment. Cuvier-Wale sind die Tieftauch-Champions der Meere: Ihr Rekord liegt bei 2992 Metern Tiefe und 137,5 Minuten Dauer. Wenn die Jäger in den Tiefen der Ozeane Müll finden und statt Tintenfische fressen, ist die Katastrophe schon fortgeschritten.
Andere Plastikstücke treiben als Fallen umher, in denen sich Lebewesen verfangen, verletzen oder gar ersticken. Zerrissene, für die Fischerei unbrauchbare Netze aus Nylon treiben durch die Meere. In den reissfesten, im Wasser fast unsichtbaren Maschen und Schnüren verfangen sich Schildkröten, Seevögel, Robben, Otter, kleine und grosse Wale. Kommen die Tiere nicht schnell genug wieder frei, ersticken oder ertrinken sie. Wenige von ihnen stranden verletzt oder tot, die meisten sterben und versinken ungesehen im Ozean.
Grosse Plastikstücke zerfallen unter der Einwirkung von Wellenschlag, Salz und UV-Licht, bis sie so klein sind wie winzigste Nahrungspartikel. Diese ozeanische Suppe, angereichert mit synthetischen Polymeren auf Erdölbasis, ist die Ernährungsgrundlage für Myriaden von Meereswesen aller Grössen. Planktonorganismen wie Ruderfusskrebse oder Fischlarven und Filtrierer wie Muscheln nehmen Mikroplastik als vermeintliche Nahrung zu sich. Durch die toxischen Anteile und Ablagerungen verkrüppeln sie, erkranken an chronischen Entzündungen und reichen das Plastik in der Nahrungskette weiter. So schleicht sich die schädliche synthetische Last immer weiter nach oben, bis zum Wal. Oder zum Menschen.
Das Zeitalter des Anthropozän Das Anthropozän ist geprägt durch den verschwenderischen Umgang mit Ressourcen und Rohstoffen wie Erdöl, welches in allen Bereichen und Darreichungsformen - vom fossilen Brennstoff bis zum Kunststoff die Umweltverschmutzung antreibt. Ins Meer und in die Binnengewässer gespült, verschwinden die grossen und kleinen, durchsichtigen oder bunten Partikel aus dem Bewusstsein der Menschen. Kunststoffe sind so allgegenwärtig und erscheinen so unvermeidbar, dass ihre Anwesenheit am Strand und im Wasser bereits eine Art Normalzustand ist. Es gibt bereits Gesteinsbildungen, die neben Mineralien auch Kunststoffe enthalten - Geologen nennen sie Plastiglomerate.
Einige Kunststoffe und ihre Beimischungen wie Weichmacher können den Hormonhaushalt beeinflussen: Sie führen zu verringerter Fruchtbarkeit und wirken sich negativ auf die Fortpflanzungsfähigkeit langlebiger Arten wie Wale aus. Statt der sichtbaren inneren und äusseren mechanischen Verletzungen sind diese aussickernden Chemikalien unsichtbar. Lautlos, farblos und geruchlos durchdringen sie die Gewebe und entfalten dort heimtückisch ihre toxische Wirkung. Der Verzehr von Meeresfischen, Muscheln, Meeresfrüchten oder Meersalz spült das Plastik wieder zurück auf unsere Teller und in unseren Körper. Die Mikroplastikpartikel lagern sich meist im Magen und im Verdauungstrakt der Tiere ab, die wir nicht zu sehen bekommen. Die chemischen Verbindungen, die aus dem zerfallenden Kunststoff in den Organismus gesickert sind und die wir mitschlucken, nehmen wir nicht wahr.
Schlechte Zeiten für Wale im industrialisierten Ozean Das Zusammentreffen mit Walen berührt die meisten Menschen - wie Boten aus einer anderen Welt. Auch tote Wale berühren uns, und erzählen uns Biologen bei den Autopsien immer noch ihre Geschichte(n). Auf ihrer Haut tragen sie die Narben ihres Lebens und oft auch ihres Todes: von Rangeleien und Rivalenkämpfen, Bissmarken von Orca- oder Haiangriffen oder Netzmarken, die von schmerzhaften Begegnungen mit Fischernetzen tiefe Einschnitte an Kopf, Flossen und Schwanzstiel hinterlassen. In ihren Mägen und Eingeweiden tragen sie immer häufiger Plastik. Und toxikologische Untersuchungen zeigen noch mehr industriellen Ballast in den Meeressäugern.
Der Orca Lulu hat einen traurigen Rekord aufgestellt. Das über sechs Meter lange Weibchen war im Januar 2016 auf den Hebriden gestrandet. Bei der Autopsie wurde klar: Sie hatte sich in Leinen der Krebsfischerei verfangen und war erstickt. Sie hatte zu den letzten neun Schwertwalen gehört, die in britischen Gewässern ansässig waren. Lulu war mindestens 20 Jahre alt und hatte nie ein Kalb geboren. Seit 23 Jahren beobachten Walforscher ihre Gruppe: In dieser Zeit hat es keinen Nachwuchs gegeben. Die chemische Analyse schockierte die schottische Veterinäre: Lulu war das am höchsten mit polychlorierten Biphenylen ( PCB) belastete Tier, das sie je untersucht hatten. Die Produktion von PCB ist wegen ihrer toxischen Wirkung seit den 80er Jahren verboten. Da die Verbindungen aber sehr lange überdauern, ist es kein Wunder, dass die Orca-Familie kinderlos ist - und aussterben wird. PCB werden mit Unfruchtbarkeit, einem schlechten Immunsystem und hohem Krebsrisiko in Verbindung gebracht - auch beim Menschen. Lulu ist eine tragische Ikone für den Zustand unserer Ozeane. Innerlich vergiftet durch synthetische Polymere und andere Substanzen der menschlichen Industrie, verfing sie sich am Ende ihres nicht sehr langen Lebens in einer Leine, mit der die Boje an einem Krebskorb befestigt war.
Plastikflut im politischen und öffentlichen Bewusstsein Die wachsende Anzahl wissenschaftlicher Ergebnisse und Warnungen zu den Ausmassen und Auswirkungen der Plastikflut im Meer zeigt: Wir und unsere Mitgeschöpfe zahlen einen immer höheren Preis für das Plastik. Nun baut sich politischer Druck auf. So haben die Vereinten Nationen 2016 einen 274 Seiten starken Report verfasst. Ihr Resümee: " We need stronger international commitment to combat the plastic pollution of our oceans. The time to act is now. We have no time to lose."
Auch die Meeresschutzkonferenz "Our Ocean" kam 2016 in Washington zum Ergebnis, dass schnelles, globales Handeln gegen die Plastikflut dringend sei. Allerdings blieb es bei allgemein formulierten Aufrufen. Manche Länder oder Städte gehen auf nationaler Ebene gegen das Plastikproblem vor. So wird in Grossbritannien auf eine Petition der Bürger hin der Einsatz von Mikroplastik in Kosmetik und Körperpflege-Artikeln Ende 2017 verboten. Die US-Umweltschutzbehörde EPA hat vor allem dem Plastik in den Grossen Seen den Kampf angesagt. In einzelnen Städten Australiens und der USA darf kein Wasser in Plastikflaschen mehr verkauft werden. Diese Veränderungen sind allerdings nur kleine Schritte gegen ein gigantisches Problem. Den kommerziellen Walfang konnten wir beenden. Viele Walbestände erholen sich von der Massenschlachterei. Plastik hingegen wird mit seinen Auswirkungen für Jahrzehnte oder Jahrhunderte in den Ozeanen und Binnengewässern bleiben. Und wir produzieren täglich neues.
In manchen Wintern stranden besonders viele Pottwalbullen in der Nordsee. Diese tief tauchenden Jäger verirrten sich, aus nordnorwegischen Gewässern kommend, in der flachen Nordsee. Auf den flachen Sandböden haben sie keine Chance zur Orientierung, da ihr Sonar dort nicht wie gewohnt funktioniert. Sind sie erst in der Nordsee gefangen, stranden und sterben sie. Seit Jahrhunderten werden die Strandungen der Leviathane dokumentiert, seit Jahrzehnten werden die Tiere auch untersucht. 2016 kam es bei den Autopsien zu einem neuen Befund: Die Pottwale hatten neben Tintenfischschnäbeln auch Plastik gefressen - zwei Walmägen waren fast vollständig mit Kunststoff gefüllt - darunter einem Netz aus der Krabbenfischerei und scharfkantigen Autoteilen.
Revolution gegen die Plastikflut? Zur Eindämmung der Plastikflut wären so tiefe Eingriffe nötig, dass demokratische Strukturen mit ihren langwierigen Prozessen ermutigend wirken können. Nicht einmal die gesundheitlichen Schäden im menschlichen Körper durch Kunststoffverbindungen auf Erdölbasis bringen uns zur Abkehr vom Plastik. Der Kampf gegen die Plastikflut kann nur gelingen, wenn das Mantra aus Vermeiden, Ersetzen, Wiederverwenden und Recyceln streng geplant und umgesetzt wird - individuell von den Konsumenten, im grossen Rahmen von Industrie und Handel und übergeordnet durch politische Entscheidungen und Vorgaben. Die Einschränkung der Plastikflut bedeutet ein vollständiges Umdenken im täglichen Leben. Es geht um die Entwicklung eines neuen Selbstverständnisses des Menschen auf unserem blauen Planeten durch gesellschaftspolitische, soziologische, psychologische und philosophische Denkansätze, die zu grundsätzlichen Veränderungen führen. Wir brauchen nichts Geringeres als eine Revolution gegen die Verschwendung und das Wegwerfen von Kunststoff!
Vielleicht geben die Wale, die unter unserem Kunststoffrausch zu leiden haben, dem abstrakten Plastikproblem ein Gesicht. Ein stärkeres Symbol als einen plastikverseuchten Pottwal kann ich mir nicht vorstellen.
Moby Dick hatte mit Kapitän Ahab einen würdigen Gegner und konnte den Zweikampf schliesslich für sich entscheiden. Gegen Plastiktüten hat kein Wal eine Chance. Diesen Kampf müssen wir führen. * Bettina Wurche
Die Biologin und Journalistin Bettina Wurche hat in Hamburg Zoologie, Fischereiwissenschaft und Paläontologie studiert. Ihr Special ist Science-Marketing: die allgemein verständliche Vermittlung von wissenschaftlichen Fakten in lebendigen Texten, Vorträgen und Ausstellungen. Ihre bevorzugten Themen sind die Ozeane und ihre Lebewesen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ihr Fokus liegt auf den Walen - auf Forschungsreisen und Öko-Tourismus zwischen Arktis und Antarktis sowie in Museumssammlungen. Auf ihrem Science-Blog „Meertext" schreibt sie regelmäßig über Meeresthemen und Raumfahrt.