SWR 2 Wissen, 01. September 2015
Aus keinem anderen afrikanischen Land fliehen so viele Menschen wie aus Eritrea. Das Land ist von der Welt ähnlich abgeschottet wie Nordkorea, und die eritreische Diktatur offenbar auch ähnlich brutal. Wer noch einen Funken Körperkraft hat, muss als Soldat dienen oder auf Feldern und in Betrieben von Militärs arbeiten. Dieser Zwangs-Militärdienst verwandelt das ganze Land faktisch in ein Arbeitslager. So berichten es die Menschen, die die Flucht nach Europa oder Israel überleben. Viele ertrinken jedoch im Mittelmeer oder fallen auf der Sinai-Halbinsel Entführern in die Hände.
Die Flüchtlingstragödien im Mittelmeer sind ständiges Thema in den Medien. Weniger bekannt ist: Kein anderes afrikanisches Land hat dort mehr Todesopfer zu beklagen als Eritrea. Der kleine und erst 22 Jahre alte Staat im Osten Afrikas. Bis zu einem Viertel der eritreischen Bevölkerung soll schon geflohen sein, etwa 70.000 von ihnen nach Deutschland. Aus keinem anderen afrikanischen Land fliehen so viele Menschen.
Was treibt sie in die Flucht?Auch in der kenianischen Hauptstadt Nairobi leben hunderte eritreische Flüchtlinge. Viele haben keine legalen Papiere und verstecken sich deshalb. Sie fürchten den langen Arm der eritreischen Regierung, fühlen sich durch die Mitarbeiter der eritreischen Botschaften auch im Ausland verfolgt.
Die wenigsten der Flüchtlinge trauen sich zu reden. Elias Habteselassie ist eine Ausnahme. Er hat einen niederländischen Pass und deshalb weniger Angst. Außerdem ist er schon 73 Jahre alt.
Habteselassie hat die meiste Zeit im Ausland gelebt - relativ sicher vor dem Zugriff der eritreischen Regierung. Einer Regierung, für die er jahrzehntelang gekämpft hat. Der er so an die Macht geholfen hat. Als Achtzehnjähriger wurde Habteselassie Mitglied der "Eritreischen Volksbefreiungsfront" EPLF. Im politischen Flügel der Bewegung kämpfte er mit für die Unabhängigkeit Eritreas. Aber schon in den 70er Jahren kamen ihm erste Zweifel.
Immer mehr Parteimitglieder wurden als "Abweichler" und "Konterrevolutionäre" verunglimpft und exekutiert. Anfangs hoffte Habteselassie, dass diese harte Linie nur mit dem Krieg zusammenhängt. Dass sich die EPFL nach dem militärischen Sieg in einem friedlichen Eritrea verändern würde. Heute weiß er: Er war naiv. Wie etliche weitere Weggefährten ließ er sich blenden. Tausende bezahlten dafür mit dem Leben. Und heute darf noch nicht einmal das Rote Kreuz Gefangene besuchen. In Eritrea sind alle Rechte außer Kraft gesetzt.
Anfang Juni 2015 veröffentlichten die Vereinten Nationen einen Bericht über die Lage in Eritrea. Weil noch nicht einmal die UN-Ermittler einreisen durften, mussten auch sie mit Flüchtlingen sprechen, um sich ein Bild von den politischen Verhältnissen zu machen. Sie interviewten 550 Menschen und erhielten außerdem 160 schriftliche Aussagen.
Das Fazit: Willkürliche Verhaftungen, Folter und Zwangsarbeit sind weit verbreitet. Einige der Menschenrechtsverletzungen sind womöglich Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Tausende Eritreer sitzen ohne Anklage oder Aussicht auf ein Gerichtsverfahren in Haft. Besuche von Rechtsanwälten oder Familienangehörigen sind verboten.
Tod im Gefängnis ist üblichDie Regierung macht weder Angaben zur Gesamtzahl der Gefangenen, noch zur geographischen Lage der Haftanstalten. Tod im Gefängnis ist üblich. Gründe sind Misshandlungen, Folter, Hunger und die Verweigerung medizinischer Behandlung.
Akribisch zählt der Bericht die unterschiedlichsten Arten der Folter auf. Dazu gehören: Vergewaltigungen, Schläge mit der Peitsche, Plastikrohren und elektrischen Stöcken. Das zwangsweise und stundenlange Stehen in der Sonne, vor allem um die Mittagszeit an einem besonders heißen und sonnigen Tag. Verschiedene Formen der Fesselung, der Körper wird zum Beispiel zu einer Acht zusammen gebunden. Aufhängen an Bäumen. Drücken des Kopfes in einen Behälter mit sehr kaltem Wasser. Schläge auf Fußsohlen und Hände. Das Hinterherziehen von Gefangenen hinter einem fahrenden Auto.
Der eritreische Präsident Isaias Afewerki in einem der seltenen Interviews mit ausländischen Medien, mit dem arabischen Fernsehsender Al Jazeera, nennt diese Vorwürfe "reine Fantasie". Isaias Afewerki marschierte am 24. Mai 1991 an der Spitze der Guerilla-Armee in die eritreische Hauptstadt Asmara ein. Er war der Generalsekretär der EPLF, die dreißig Jahre lang für die Unabhängigkeit Eritreas von dem großen südlichen Nachbarn Äthiopien gekämpft hatte.
Referendum für UnabhängigkeitUnd zwar Seite an Seite mit einer äthiopischen Rebellenarmee, die nach dem gemeinsamen Sieg im Nachbarland Äthiopien die Macht übernahm und dort bis heute, zur Partei gewandelt, regiert. Die Sehnsucht nach der Unabhängigkeit hatte gute Gründe: Äthiopien war zunächst unter Kaiser Haile Selassie, dann unter dem sozialistischen Militär Mengistu Haile Mariam eine brutale Diktatur.
Mit dem Einmarsch der EPLF in Asmara am 24. Mai 1991 war die Niederlage der eigentlich übermächtigen äthiopischen Armee besiegelt. Elias Habteselassie war damals 49 Jahre alt und immer noch Mitglied der EPLF.
Zwei Jahre nach dem Sieg über Äthiopien stimmte die eritreische Bevölkerung in einem Referendum mit fast 100 Prozent der Stimmen für die Unabhängigkeit von Äthiopien. Am 24. Mai 1993 wurde das kleine Land am Horn von Afrika ein eigener Staat. Die EPLF, formal zu einer Partei gewandelt, übernahm die Macht. Der ehemalige Guerilla-Kämpfer Isaias Afewerki wurde Präsident des neuen Staates. Er beauftragte ein Komitee mit der Ausarbeitung einer Verfassung. Elias Habteselassie war daran beteiligt
Dass die Verfassung nie in Kraft trat, erklärte Afewerki mit dem nächsten Krieg: 1997 überschritten äthiopische Truppen die gemeinsame Grenze und besetzten ein paar Flecken eritreischen Landes. Der Konflikt eskalierte ein Jahr später zu einem verlustreichen Stellungskrieg. Die Zahl der Opfer auf beiden Seiten wird auf bis zu 300.000 geschätzt. Seit dem Jahr 2000 wird zwar nicht mehr gekämpft, aber die Truppen auf beiden Seiten wurden auch nicht demobilisiert.
Im Gegenteil: Die Militarisierung Eritreas nahm weiter zu. 2002 rief die eritreische Regierung eine zeitlich unbefristete "Entwicklungskampagne" aus. Seitdem ist der Wehrdienst zeitlich nicht mehr begrenzt. Männer und Frauen sind dauerhaft zum Dienst in der Armee oder zu einem so genannten "Nationaldienst" verpflichtet.
Die Politologin Nicole Hirt, Mitarbeiterin am Giga-Institut für Afrikastudien in Hamburg, erforscht die Verhältnisse in Eritrea. Einige Jahre lang hat sie im Land selbst gearbeitet und an der Universität von Asmara politische Wissenschaften gelehrt. Im Jahr 2003 wurde die Uni geschlossen. Seitdem gibt es in Eritrea keine höhere Bildungseinrichtung mehr, die nicht dem Militär unterstellt ist.
Militär ab der 12. SchulklasseInzwischen ist auch Hirt für ihre Forschung auf Flüchtlinge und andere Quellen angewiesen. Die eritreische Opposition betreibt Internetseiten, manchmal werden Videos herausgeschmuggelt. Hin und wieder gelingt es Informanten, Eritrea für kurze Zeit zu bereisen. In ihrer Forschung hat sich Hirt immer wieder mit der Rolle des eritreischen Militärs beschäftigt.
Auch die Vereinten Nationen kritisieren in ihrem Menschenrechts-Bericht die weitreichende Militarisierung des Landes. Schon die 12. Schulklasse findet in einem militärischen Ausbildungslager statt. Danach folgt nahtlos der Nationaldienst. Das Ende des Zwangsdienstes ist nicht klar definiert: Er kann vom 18. bis zum 50. Lebensjahr dauern, aber auch länger.
Diese Militarisierung der Gesellschaft hat drastische wirtschaftliche Folgen. Denn die Wehrpflichtigen bekommen umgerechnet nur 10 Euro im Monat als Sold. Auch in Eritrea reicht das bei weitem nicht zum Überleben. Es ist dieser verordnete, unter Umständen lebenslange Militär- und Nationaldienst, der viele in die Flucht treibt.
Der Führung geht es blendendDie im Ausland lebenden Eritreer werden außerdem gezwungen, zwei Prozent ihres Einkommens an die eritreische Regierung zu zahlen, als sogenannte Wiederaufbau-Steuer. Wer das nicht tut, bekommt seinen Pass nicht verlängert und wird damit staatenlos. Früher wurde das Regime auch noch von Libyens Machthaber Gaddafi finanziert, doch seit dessen Sturz 2011 ist dieser Geldfluss versiegt. Nun versucht das eritreische Regime, Hilfsgelder von der Europäischen Union zu bekommen.
Agenturberichten zufolge ist Europa nicht abgeneigt. Details der Pläne sind nicht bekannt, dem Vernehmen nach geht es um mehr als 100 Millionen Euro. Offenbar hoffen die Brüsseler Diplomaten, dass die Finanzspritze für das Regime den Strom der eritreischen Flüchtlinge stoppt. Währenddessen geht es der politischen und militärischen Führung allerdings heute schon glänzend, trotz des Elends der Bevölkerung. Und die Beteiligung von Generälen am Menschenschmuggel haben Flüchtlinge gegenüber dem SWR bestätigt.
SWr2 Wissen. Von Bettina Rühl. Internetfassung: Ulrike Barwanietz & Ralf Kölbel
Stand: 31.8.2015, 17.07 Uhr
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