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Kuratieren im Journalismus: Kontext ist King

Links zu empfehlen und einzuordnen ist angesichts der enormen Informationsflut im Internet gerade wieder total in. Welche Arten des Kuratierens es gibt, was einen guten Kurator ausmacht und warum es sich lohnt, einer zu werden, erklärt Bernd Oswald. 


Das Wissen der Menschheit verdoppelt sich in immer kürzeren Zeiträumen. Auf uns strömen jeden Tag Hunderte oder Tausende Informationen ein, ganz besonders, wenn wir online sind. Die große Gefahr dabei: überinformiert und gleichzeitig unterorientiert zu sein. Wohl dem, der auf ein Netzwerk von Navigatoren zurückgreifen kann, die einen einordnenden Überblick schaffen: Kuratoren.

Im Zeitalter des Informations-Overloads sind Instanzen gefragt, die Orientierung liefern. Dazu gehört, aus dem Nachrichten-Ozean die wichtigen, interessanten und relevanten Themen oder neue Zugänge zu bekannten Themen herauszufischen.

Kuratieren - was ist das überhaupt?

In den vergangenen Jahren hat sich ein neuer Begriff für diese Filterfunktion herausgebildet: Kuratieren. Das Wort nimmt Bezug auf den Kurator (vom lateinischen curare = sorgen, sich kümmern) eines Museums, der die Exponate einer Ausstellung nicht nur auswählt, sondern auch über ihre Anordnung und Präsentation entscheidet.

Wo liegen die Unterschiede zwischen dem Kuratieren und dem Berichten? Reporter und Autoren recherchieren, sprechen mit Leuten, besuchen den Schauplatz des Geschehens. Sie verarbeiten in ihren Texten und Beiträgen also Primärquellen (zumindest sollten sie das idealtypisch). In der Regel erheben Autoren mit ihren Texten, vor allem mit Kommentaren und Analysen, einen Deutungsanspruch oder eine Interpretationshoheit. Beim Kuratieren ist die Schöpfungshöhe etwas niedriger:

Hier steht die Auswahl von bereits vorhandenen Werken anderer (Journalisten) im Vordergrund. Hinzu kommt das Anmoderieren dieser Beiträge.

Warum kuratieren?

Natürlich ist das Kuratieren als Tätigkeit nicht komplett neu, nur der Begriff ist vergleichsweise jung - zumindest im journalistischen Kontext.

Presseschauen gibt es schon jahrzehntelang. Gastautoren haben ebenfalls eine lange Tradition. Beides waren aber gerade in der alten Welt der Massenkommunikationsmedien Zeitung, Zeitschrift, Radio und Fernsehen eher kleine Nischen.

Im Netz gelingt es keinem Verlag, auch nur annähernd eine ähnlich große und vor allem treue Leserschaft zu gewinnen. Es ist eher ein Kampf um Gelegenheitsleser, die nicht mehr allzu viel auf (Medien-)Marken geben, sondern in erster Linie an gutem, interessantem und relevantem Inhalt interessiert sind. Natürlich können Leseempfehlungen hier auch automatisiert erstellt oder aggregiert werden, doch oft sind die Ergebnisse unbefriedigend. Der menschliche Experte denkt im Zweifelsfall noch eine oder zwei Ebenen weiter oder stellt Texte in den Kontext, die dem Algorithmus entgehen. Und genau deswegen sind kuratierende Journalisten so wichtig - und werden immer wichtiger. Sie sind sozusagen die Trüffelschweine, die den guten Inhalt im Netz aufspüren. Sie klauben Texte zusammen und schnüren sie moderiert bzw. kommentiert zu einem neuen Paket.

Ein guter Kurator ist also zuallererst ein Experte auf seinem Gebiet. Und er sollte sehr gut vernetzt sein, damit ihm keines der wichtigen Themen durch die Lappen geht. Dabei gibt es viele Abstufungen; schauen wir uns mal ein paar Beispiele an.

Arten des Kuratierens

Schon seit fast zehn Jahren veröffentlicht das Bildblog um 8.54 Uhr, also um sechs vor neun, sechs medienkritische Links, sehr oft aus Blogs. Ronnie Grob - er war jahrelang Bildblog-Kurator, inzwischen ist es Lorenz Meyer - hat den Digitalen Notizen mal in einem Interview erklärt, wie er diese Links findet. Die Links folgen dem Schema "Überschrift, Quelle, Autor", bevor der Kurator einige Zeilen Anmoderation und Einordnung schreibt. 6 vor 9 ist zu einer Marke innerhalb der Marke Bildblog geworden und sozusagen der Nestor unter den Kurationsdiensten.

Piqd: die Rosinenpicker

Im November 2015 ist piqd.de als reine Empfehlungsseite an den Start gegangen, anfangs mit 13, mittlerweile sogar mit 17 Kanälen: von Medien und Gesellschaft (Disclaimer: Für diesen piqd-Kanal bin ich selbst tätig.) über Feminismen, Games, Münchner Stadtleben bis hin zu Osteuropa oder Arbeit und Zukunft. In jedem Kanal empfehlen zwischen fünf und zehn Experten Texte, die zum Nach- und Weiterdenken anregen. Keine reinen Nachrichten, sondern bevorzugt Analysen, Essays, Hintergrundberichte, auch mal Interviews. Texte, die etwas Nachhall haben.

Piqd pickt also die Rosinen heraus, weswegen die Seite auf dem Basic-Thinking-Blog auch als "Rosinenpicker" bezeichnet wurde. Die "Piqer", wie die Kuratoren hier genannt werden, wählen dabei eine eigene Überschrift und schreiben je nach Gusto eine Anmoderation, die mal kürzer, mal länger ausfällt. Sie soll aber keine reine Inhaltsangabe sein, sondern dem Leser klar machen, warum es sich lohnt, den empfohlenen Text zu lesen. Manche Empfehlung liest sich wie eine Rezension. Auf dem Kuratiermarkt sind die Anmoderationen von piqd auf jeden Fall die ausführlichsten. Damit bei der Fülle der Kanäle und "Piqer" kein undurchsichtiger Dschungel entsteht, darf jeder Piqer nur einen Link pro Tag posten.

Die Redaktion besteht zu einem Teil aus Prominenten, die aus beruflichem Interesse heraus twittern - wie die Bundestagsabgeordneten Konstantin von Notz (Grüne) oder Dorothee Bär (CSU), beide bei Netz und Politik, oder der Netzaktivistin Anke Domscheit-Berg -, zum anderen Teil aus Journalisten, die fürs piqen eine monatliche Pauschale bekommen.

Niuws: handverlesene Business-News

Das Schweizer Start-up Niuws verfolgt seit Anfang 2015 einen ganz ähnlichen Ansatz. Hier gibt es sogar 60 Kanäle, die sich vor allem um spezielle Netz(wirtschafts)themen wie Design Thinking, Product Management, Smart Mobility oder Campaigning drehen. Zielgruppe sind folglich Leute, die in der Digitalwirtschaft arbeiten. Hinter jeder Box, wie die Kanäle heißen, steht jeweils ein Experte. Die Anmoderation beschränkt sich hier aber meist auf einen Satz, der auf maximal 80 Zeichen beschränkt ist. Während man piqd auch im Browser nutzen kann, gibt es Niuws "nur" als App.

Blendle: der Kiosk mit redaktionellen Tipps

Blendle ist der aus den Niederlanden stammende Onlinekiosk, in dem Verlage ihre E-Paper verkaufen: einzeln, als ganze Ausgabe oder sogar als Abo. Seit September 2015 auch in Deutschland.

Nutzer können einige Themen und Medien angeben, für die sie sich interessieren. Darüber hinaus gibt es jedoch für alle Ressorts und Themen eine eigene Redaktion, die spezielle Artikel aus den beteiligten Medien empfiehlt. Die Teaser sind ähnlich kurz wie bei Niuws, oft nach dem Muster "Was wir von Amerika über politische Fernsehdebatten lernen können". Diese Empfehlungen gibt es nicht nur auf der Seite, sondern morgens auch per Newsletter, in dem zehn Links, die zu den Interessen des Blendle-Mitglieds passen, angeteasert werden, abgerundet von den drei meistgelesenen Blendle-Artikeln des Vortages.

Social Media Watchblog: am Puls der Zeit

Sehr beliebt und wirklich absolut am Puls der Netz-Szene ist der Social Media Watchblog von Martin Giesler, Christian Simon, Simon Hurtz, Anna Aridzanjan und Tilman Wagner. Einst als Blog gestartet, hat sich das Quintett nun aufs newslettern verlegt. Stilistisch erinnert er an Krautreporter (oder umgekehrt): handverlesene Themen, von den Autoren sauber und unterhaltsam eingeordnet und natürlich verlinkt. Curation at its best.

Der Newsletter des Social Media Watchblog hat bereits mehr als 2200 Abonnenten und ist ein Paradebeispiel dafür, wie Fachjournalisten ihren Ruf durch ein als nützlich empfundenes Angebot untermauern.

Krautreporter Morgenpost: der ausführlichste Newsletter

Ebenfalls auf den Newsletter setzen die Krautreporter. Allerdings nicht, um - wie Blendle - damit letztendlich Geld zu verdienen, sondern als altruistischer Service: Man muss noch nicht mal Mitglied sein, um den wirklich ausgezeichneten Morgenpost-Newsletter abonnieren zu können. (Außerdem steht die Morgenpost auch auf der Krautreporter-Website.)

Jeweils ein Autor (zumeist Christian Fahrenbach) destilliert aus der Informations- und Nachrichtenflut im Internet die drei Themen des Tages heraus; in der Regel handelt es sich hier also um aktuelle Ereignisse. Der Clou an der Morgenpost: Der Autor fasst die Ereignisse in eigenen Worten zusammen, stellt sie in den Kontext und spannt einen Bogen zu verschiedenen Aspekten des Themas. Die einzelnen Aspekte werden mit der Quelle verlinkt. Ein Beispiel:

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen darf Doktortitel behalten

Plagiat teils ja, Titelentzug nein: Ursula von der Leyen darf ihren Doktortitel der Medizinischen Hochschule Hannover behalten. Sie habe zwar in der Einleitung ihrer Arbeit plagiiert und Originalautoren nicht kenntlich gemacht, der zentrale Teil mit den Ergebnissen ihrer Forschung sei aber ohne Mängel gewesen, erklärte gestern der Präsident der Hochschule, Oliver Baum. ( Spiegel Online) Der heutigen Verteidigungsministerin war zudem vorgeworfen worden, Risiken der in ihrer Arbeit beschriebenen Behandlungsmethode verschwiegen zu haben, doch auch diese Vorwürfe seien ausgeräumt, hieß es. ( taz.de) Auf Vroniplag war von Plagiatsfundstellen auf 27 der 62 Seiten der Arbeit die Rede. Oft waren dies einzelne Sätze oder kurze Passagen, insgesamt etwa zwölf Prozent des Textteils. ( Süddeutsche Zeitung)

Neben den Hintergründen zu den Nachrichten gibt es noch ein buntes "Fundstück des Tages" und ein bisschen Eigenwerbung: "Neu bei Krautreporter".

Weitere Beispiele: ein kurzer Überblick

Ebenfalls einen Nachrichtenüberblick gibt die Süddeutsche Zeitung, die morgens und abends ihren " Espresso" genannten Newsletter verschickt. Der Fokus liegt aber naturgemäß auf Links zur eigenen Website. Auch Bezahlinhalte von der digitalen Version der Zeitung werden beworben. Dennoch ist der Newsletter ein nützliches Tool, um einen kompakten Nachrichtenüberblick zu geben und die Leser auf einem sehr persönlichen Kommunikationskanal zu erreichen: ihrem E-Mail-Postfach.

Während der SZ-Espresso direkt vom Newsdesk kommt, setzen andere Verlage auf ihre Chefredakteure als Newsletter-Autoren. Tagesspiegel-Chefredakteur Lorenz Maroldt schreibt im Checkpoint persönlich-pointiert, was in Berlin los ist. Der Lohn: 2015 ist Checkpoint mit dem Grimme-Online-Award ausgezeichnet worden und wird auch durch Anzeigen im Newsletter vermarktet.

Andere Beispiele: das Morning Briefing von Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart, die Stimme des Westens von Rheinische-Post-Chefredakteur Michael Bröcker oder der Edition F-Newsletter von Chefredakteurin Nora-Vanessa Wohlert.

Wie finde ich kuratierwürdige Inhalte?

Wer ein guter Kurator sein will, muss sich in seinem Thema sehr gut auskennen und gleichzeitig in der Lage sein, den Überblick zu bewahren. Neben der Erfahrung durch eigenes Recherchieren und Publizieren gehört ein gutes Informationsmanagement dazu. Online nutzen daher viele Kuratoren einen Mix aus folgenden Quellen und Kanälen:

Nachrichten- oder Fachwebsites, teils institutionell, teils von Verlagen, teils von Bloggern, oft per RSS-Feed abonniert; selbst erstellte, thematisch fokussierte Listen auf Twitter oder Facebook; thematische Gruppen in sozialen Netzwerken; Newsletter (wie die oben erwähnten). Besonders ergiebig können Newsletter sein, die solche Links aggregieren, die in den letzten 24 Stunden innerhalb des eigenen Netzwerks (vor allem Twitter und Facebook) am häufigsten geteilt wurden. Gute Beispiele dafür sind Nuzzel, Medium und Tame.

Die genannten Beispiele zeigen: Ein guter Kurator muss auch gut vernetzt sein. Je länger man an einem Thema dran ist, desto engmaschiger wird in der Regel das Netzwerk, desto geringer auch die Gefahr, ein wirklich interessantes und relevantes Thema zu verpassen. Mit dem reinen Sichten ist es aber noch nicht getan: Der Kurator muss auch die Links auswählen, die er empfehlen möchte. Ist diese Entscheidung gefallen, kommt der kreative Part: Die Links anmoderieren.

Mir persönlich helfen ausführlichere Anmoderationen und Einordnungen wie bei der Krautreporter-Morgenpost oder im Social-Media-Watchblog mehr als 80 Zeichen-Zusammenfassungen wie bei Niuws oder Blendle, die auf diesem kurzen Platz kaum mehr als eine grobe Inhaltszusammenfassung bieten können. Der Kurator soll eben nicht nur sagen, worum es geht, sondern auch, warum es sich lohnt, diesen Text zu lesen, und idealerweise die zentralen Gedanken des Textes anreißen. Beim Kuratieren ist Kontext King.

Werkzeuge zum Kuratieren

Links sammeln kann man auf jeder Website, dazu sind keine speziellen Tools nötig.

Wer es etwas schicker mag und lieber mit Embeds statt mit Links arbeitet, ist bei Storify gut aufgehoben. Für Journalisten besonders wichtig: Man kann beliebig viele Textfelder einbauen, um zu erklären, warum man diesen oder jenen Content ausgewählt hat, was daran besonders ist, von wem er stammt, in welchem Zusammenhang er zu sehen ist usw. Und diese Einordnung macht den Unterschied zu reinen Linksammlungen aus, vor denen man manches Mal etwas ratlos steht. Für jede Storify kann man einen Embed-Code generieren, sodass man die Geschichte in das eigene Angebot einbinden kann.

Wenn diese Recherche- und Einordnungsleistung dann im eigenen Redaktions-Layout mit ansprechender Überschrift und packendem Teaser versehen wird, ist ein Werk mit Mehrwert für den Leser entstanden. Für den Newsletter-Versand gibt es schon spezielle Software, sehr weit verbreitet ist Mailchimp.

Fazit

Kuratieren ist an sich nicht neu, wird aber in der reizüberfluteten Informationsgesellschaft immer wichtiger. Gerade als Fachjournalist kann man seine Expertise zeigen, indem man seinen Lesern empfiehlt, was sie nicht verpassen dürfen. Wichtig ist, nicht nur eine reine Inhaltsangabe zu schreiben, sondern den empfohlenen Text auch in seinem Kontext darzustellen. Ein guter Kurator ist immer auch ein guter Netzwerker.

Titelillustration: Esther Schaarhüls  Original