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Die Liebe zum Tier

Wir behandeln sie wie Familienmitglieder, umsorgen und vermissen sie. Warum ist die Beziehung zum Haustier so einzigartig? Forscher erklären es mit der Bindungstheorie, Viecherfreunde einfach mit Glück. 


Unsere Katze Mika ist verschwunden. Es ist schlimm. Die ganze Familie ist in Aufruhr. Wir haben Suchmeldungen an Laternenmasten geklebt und, laut nach ihr rufend, die umliegenden Straßen durchkämmt. Wir haben Flyer mit ihrem Konterfei in die Briefkästen geworfen und den Tierarzt und den Tiersuchdienst benachrichtigt. Auf der Nachbarschaftsplattform nebenan.de äußern wildfremde Menschen ihr Mitgefühl und drücken die Daumen, dass Mika wieder auftaucht. 

Ihr Foto auf der Suchanzeige anzusehen (sie ist eine bildschöne Maine-Coon-Mischung) fällt mir schwer. Ich muss mich anstrengen, nicht in tiefe Sorge und Trauer zu versinken. Dabei bin ich kein obsessiver Tierfreund. Ich mag Tiere. Sehr sogar. Aber ich wundere mich immer ein bisschen, wenn Menschen Tiere wie Menschen behandeln. Ich staune über meinen Bekannten aus Los Angeles, der aus tierischer Sehnsucht nach seinem Hund Ron, den er nicht auf seinen mehrmonatigen Deutschlandbesuch mitnehmen konnte, versucht, über Facetime mit dem Mischlingsrüden zu kommunizieren (was nicht funktioniert). Er erwägt sogar, zwischenrein mal nach Hause zu fliegen, nur um Ron durchs Fell zu wuscheln. Ich wundere mich über meine Freundin, die mit ihrem Australian Sheperd Bett und Sofa teilt und ihn auf den Schoß nimmt wie ein Riesenbaby, um ihm den Bauch zu kraulen. Über Geburtstagspartys für Fellnasen, bei denen man ihnen Partyhütchen aufsetzt. Oder über die Kollegin einer Freundin, die ihr Zwerghuhn einer teuren Schönheits-OP unterzog, weil es wegen einer Flügelfehlbildung von den anderen drei Hühnern gemobbt wurde. 

Ist das nicht etwas übertriebene Tierliebe? Oder einfach nur tierisch menschlich? Mit dieser Frage sitze ich bei einem veganen Cappuccino im Café „Katzentempel“ im Münchener Univiertel Schwabing. Neben mir fläzt Ayla, eine von sechs Katzen, die hier in herrlichster Eintracht mit den Kaffeehaus-Besuchern leben. Ayla besetzt seit Stunden einen Gästesessel wie ein Feldherr, aber niemand käme auf die Idee, ihn von dort herunter zu heben. 

„Bei uns stehen die Katzen über den Gästen“, erklärt Serviceleiterin Anke Fritz. Die 27-Jährige hält selbst zwei Katzen. Als sie hier vor vier Jahren parallel zu ihrem Mathe-Studium zu jobben begann, konnte sie sich noch keine eigenen leisten. Da waren die Café-Cats Ersatzlieblinge. „Ohne sie“, ist die zukünftige Lehrerin überzeugt, „hätte ich mein Mathe-Staatsxamen nicht geschafft.“ Die Katzen brächten einen runter, „sie lieben dich, auch wenn du eine Prüfung verhauen hast.“ Dass es vielen Gästen ähnlich ergeht, erlebt Fritz jeden Tag aufs Neue. Studentinnen schwirren herein, um beim Streicheln von Jack, der den Ruf des „Trostkaters“ genießt, zu chillen. Aber auch betagtere Herrschaften, die sich zu alt für ein Haustier fühlen, und das Schmusen und Schnurren vermissen. Stundenlang sieht man sie mit einem der Stubentiger sitzen, versonnen kraulend, in lächelnder Zufriedenheit.

Warum ist das so? Was verbindet Mensch und Tier? Warum lieben wir sie so? Ich verabrede mich mit Andrea Beetz zu einem längeren Gespräch – nach dem morgendlichen Gassigehen mit ihrem Hund Asmo. Die Psychologin und Professorin für Heilpädagogik an der IUBH Internationalen Hochschule arbeitet seit gut 20 Jahren wissenschaftlich zu den Effekten von Mensch-Tier-Beziehung – und erlebt diese tagtäglich in der eigenen Familie. Asmo, ein Nova Scotia Duck Tolling Retriever, sei ein vollwertiges Familienmitglied, erzählt sie sogleich. „Die Kinder hängen sehr an ihm.“ Der Name Asmo klingt noch sehr nach Hund. Immer mehr Hunde und Katzen heißen inzwischen wie Menschen, ergab kürzlich eine Umfrage des Haustierregisters Tasso. Wir nennen sie Lilly, Max und Luna, Felix  oder Emma – alles auch beliebte Kindernamen. Ein weiteres Indiz der intensivierten Nähe. „Wir Menschen sind biophil“, erklärt Beetz das Phänomen. „Das Interesse an Tieren ist als evolutionäres Erbe im Menschen angelegt. Wir haben seit jeher das Bedürfnis, mit der Natur in Kontakt zu sein. Schon Kleinkinder aller Kulturen interessieren sich intensiv für Tiere.“ Auch Beetzens Kinder, sie sind eins und drei Jahre alt. Jeden Morgen bekommt Asmo Hundekekse von dem Älteren, bevor der Rest der Familie überhaupt an Frühstück denkt. Die Kekse bäckt die Oma, mit Thunfisch, Ei und Hafer. Hundekekse-Selberbacken ist heute so selbstverständlich wie Kochen für die Familie: eine Liebeswährung. Vor 50 Jahren hätte man Hundebesitzer dafür wahrscheinlich noch belächelt. 

 „Früher war eine emotionale Beziehung zu Tieren sozial nicht so akzeptiert“, konzediert Beetz. „Das heißt aber nicht, dass es sie nicht gegeben hat.“ Von Alexander dem Großen etwa seien die Namen seiner Pferde überliefert – „wahrscheinlich, weil er eine enge Bindung zu ihnen hatte.“ Auch Preußenkönig Friedrich II. pflegte ein inniges Verhältnis zu seinen Hunden, die in seinem Bett schlafen durften und von den Lakaien auf französisch gesiezt werden mussten. Ihre Gruft auf Schloss Sanssouci grenzt heute an die letzte Ruhestätte ihres Herrchens, so wie es der Wunsch des Alten Fritz war. 

Versponnen? Eher menschlich, wenn es nach Beetz geht. „Wir sind von der Verhaltensbiologie so angelegt, eine Bindung mit anderen Wesen einzugehen“, sagt sie. „Haustiere helfen, unser Bedürfnis nach sozialer Verbundenheit zu befriedigen.“ Auch unsere Vorliebe für das Niedliche spielt dabei eine Rolle. Mit ihrem süßen Aussehen adressieren Tierkinder und manche entsprechend gezüchteten Rassen an das tief im Menschen verankerte Kindchenschema: Attribute wie ein großer runder Kopf mit vorspringender Stirn, große Augen und ein rundlicher Körper aktivieren unsere Fürsorgehalten. „Wie süüüß!“ – kann als Überschrift über die Milliarden von Katzenvideos im Internet stehen, die Stubentiger als Helden der Niedlichkeit inszenieren. Cat Content ist (nach Pornos) der zweitmeistgeklickte Web-Inhalt. 

Der Mensch sehnt sich nach einer Beziehung zum Tier. Dass sich domestizierte Vierbeiner wie Hunde, Katzen, Pferde – von den Wissenschaftlern als „Kumpantiere“ bezeichnet  – dafür besser  eignen als Kugelfische oder Kreuzspinnen, liegt auf der Hand. Und es hat biologische Gründe. Aus der jüngeren Forschung weiß man, dass die Beziehung zum Heimtier auf vergleichbaren Hirnstrukturen und –funktionen basiert. Vor allem mit den höher entwickelten Säugetieren teilen wir ein Netzwerk von Kerngebieten im Vorder- und Mittelhirn, das Hormone produziert und Sozialverhalten und Stressreaktionen reguliert. Neuere Forschungen zeigen, dass die Hauptquelle für Stress bei sozial organisierten Tieren zumeist ebenfalls sozial bedingt ist. Zugleich lässt sich Stress just über diese Sozialbeziehungen positiv beeinflussen – wie beim Menschen auch. Als Schmiermittel für Sozialbeziehungen aller Art gilt dabei das Neuropeptid Oxytocin. „Zahlreiche Studien belegen inzwischen, dass vor allem beim Hautkontakt mit Tieren auf beiden Seiten Oxytocin ausgeschüttet wird“, erklärt Psychologin Andrea Beetz, die gemeinsam mit Kollegen ein Buch über die „Bindung zu Tieren“ geschrieben hat (Hogrefe-Verlag). 

Wie viele ihrer Forscherkollegen – Anthrozoologen nennen sich jene, die sich auf die Beziehung Mensch/Tier spezialisiert haben – vergleicht auch Beetz die Bindung zum Tier mit der zwischen liebenden Menschen. „Die Bindungstheorie nennt vier Kriterien für das Vorhandensein einer Bindungs- oder Fürsorgebeziehung“, erklärt sie. „Die Bindungsfigur ist eine verlässliche Basis, auch für Trost und Rückversicherung. Sie vermittelt Sicherheit. Die körperliche Nähe geht mit positiven Gefühlen einher. Und Trennungen lösen Schmerz und Vermissen aus.“ Auf die meisten Haustierbesitzer träfen alle vier Kriterien zu. 

Auf meine Familie und mich wahrscheinlich auch. Ich muss an das Ritual meiner Tochter denken, wenn sie sich nach einem stressigen Schultag erst mal ihre Katze Mika auf den Schoß holte, um kraulend und von Schnurrgeräuschen unterlegt eine Runde zu chillen. Seit Mika nicht mehr da ist, fehlt das schmerzlich. Der Anblick des leeren Sessels, in dem sie immer ihre Fellnester hinterließ (nicht unbedingt zu meiner Begeisterung) versetzt mir einen Stich. Die morgendliche und meist nicht mehr ganz komplette Geschenk-Maus unterm Esstisch, bei deren Entsorgung ich mich immer ärger-ekelte, sie fehlt mir jetzt fast ein bisschen. 

Haustiere tun dem Menschen gut, daran besteht kein Zweifel. Auch wenn die allermeisten ihren vormaligen Broterwerbsjob als Wach-, Hüte-, Jagd- oder sonst wie verpflichtetes Arbeitstier an den Nagel gehängt haben, steht ihr Nutzen für Renate Ohr außer Frage. „Er ist heute eher ein sozialer, seelischer und gesundheitlicher“, ist die emeritierte Professorin für Volkswirtschaftslehre überzeugt, die für ihre zweite große Heimtierstudie gerade mehr als 5200 Haustier-Besitzer befragt. „Haustiere haben einen großen Ertrag für die Gesellschaft“, sagt sie. „Auch wenn man diesen nicht vollständig in Euro messen kann.“ Wie das so ist mit Liebesdingen: Die Seelenrendite lässt sich schwer beziffern. 

Sowohl in der Therapie als auch in der Altenbetreuung spielen Tiere eine immer wichtigere Rolle. Dass der Kontakt und Austausch mit ihnen Wärme und Wohlgefühl stiftet, ist mannigfach belegt. Psychologin Beetz zum Beispiel fand gemeinsam mit Kollegen in einer Untersuchung mit 31 Kindern zwischen sieben und zwölf Jahren heraus, dass der Streichelkontakt mit Hund die Konzentration des Stresshormons Kortisol im Speichel signifikant senkt – deutlich stärker als dies bei Kontakt mit einer beruhigenden Person oder einem Plüschtier der Fall war. Allein die Anwesenheit eines Kanarienvogels einem Altersheim reduzierte die Depressionsanfälligkeit der Bewohner signifikant, ergab eine dreimonatige Studie mit 144 Senioren. Bei stationär versorgten Herzpatienten wirkten sich regelmäßige Hunde-Besuche positiv auf den Blutdruck, Angstzustände und den Adrenalinlevel aus. Sogar Gefängnisinsassen erwiesen sich in einer Studie als sozial verträglicher, wenn sie regelmäßigen Tierkontakt gehabt hatten. In einer Befragung von 719 Eltern von erwachsenen Kindern zeigten sich Heimtierbesitzer nach Auszug der Kinder als psychisch und physisch gesünder als Empty-Nest-Eltern ohne Haustier. Auch die Trennungen kamen in der Gruppe der Tierhalter seltener vor. Eine noch größer angelegte Studie bei knapp 11.000 Heimtierbesitzern schließlich ergab 2008, dass diese in der Regel gesünder sind und weniger zum Arzt marschieren – dafür im Zweifel öfter auf die Hundewiese und in den Wald. 

Auch Renate Ohr kommt an diesem verregneten Maimorgen mit Gummistiefeln und Regenjacke in ihr Haus in Göttingen gestapft. Zweieinhalb Stunden ist die emeritierte Professorin jeden Tag mit ihrem Boxer Jonny an der frischen Luft, bei Wind und Wetter. „Ich war seit Jahrzehnten nicht mehr erkältet“, erzählt sie. „Johnny hält mich fit und bei Laune. Er ist mein unermüdlicher Antreiber.“

Und ein wichtiger Sozialpartner obendrein. Für 90 Prozent der Hunde- und Katzenbesitzer ist der Vierpföter ein vollwertiges Familienmitglied, ergab eine Studie der Tierärztlichen Hochschule (TiHo) in Hannover. Knapp die Hälfte der Halter bezeichnen das Tier sogar offen als „Kindersatz“. „Die Vermenschlichung von Tieren nimmt immer mehr zu“, sagt Peter Kunzmann, Professor für Angewandte Ethik am Institut für Tierhygiene, Tierschutz und Nutztierethologie der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover.

Als Anthromorphismus bezeichnen Wissenschaftler das Phänomen, dass wir menschliche Verhaltensweisen und Wünsche auf unsere viehischen Gefährten projizieren. Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke für Hund, Hamster und Co. erzeugen heute kein Stirnrunzeln mehr. Die Freunde einer Bekannten ziehen ihren beiden Windhunden abends Pyjamas an. Im Web sieht man Hunde mit Reizwäsche und Katzen mit Baseball-Caps. Sogar Markenkleidung gibt es, strassbesetzte Halsbänder, Burberry-Mäntelchen und Hundeleinen von Chanel. „Diese Vermenschlichung wird durch Unternehmen gezielt forciert“, kritisiert Volkswirtin Ohr. „Man suggeriert, dass Gourmet-Futter und Luxus-Accessoires die Tiere glücklicher machen. Was natürlich Unsinn ist. Mir tun zum Beispiel große Hunde leid, die einen Regenmantel tragen müssen. Oder vegan ernährt werden, nur weil das ihr Frauchen auch tut.“

Oft reicht die Vermenschlichung bis an das Ende eines Tierlebens, wenn alles medizinisch Mögliche versucht wird, um ein Einschläfern zu verhindern. „Die Rolle des Tierarztes gleicht hier mehr und mehr der eines Kinderarztes“, beobachtet Philosoph Kunzmann. Immer mehr Tierbesitzer lassen ihre Tiere einäschern und nehmen die Urne mit nach Hause. Die Zahl der Tierkrematorien stieg in den letzten Jahren rasant an. Um die 30 gibt es inzwischen in Deutschland, darunter sogar ein erstes für Pferde. Auf Wunsch können sich Tierbesitzer die Asche sogar zu einem Diamanten pressen lassen. 

„Es ist inzwischen sozial akzeptiert, um ein Tier zu trauern“, bemerkt Andrea Beetz, zugleich Privatdozentin an der Universität Rostock. Auch in ihrer Familie ist der Abschied ein Thema. Hund Asmo ist schon 14 und nach einem Hirninfarkt taub. Er ist an Krebs erkrankt, viel Zeit wird ihm nicht bleiben. „Wir bangen, wenn wir daran denken“, gesteht die Forscherin. „Das wird eine große Trauer werden.“ 

In dieser Phase sind wir nun, meine Familie und ich. Fünf Wochen sind vergangen, von Mika keine Spur. Wir müssen vom Schlimmsten ausgehen. Die ersten zwei Wochen haben wir den Katzennapf mit Trockenfutter stehen lassen wie ein Zeichen der trotzigen Zuversicht. Irgendwann habe ich ihn weggeräumt. Wir müssen wohl aufhören zu hoffen. Fast schlimmer als das ist die Ungewissheit über ihren Verbleib und das, was ihr zugestoßen sein könnte. 

Was mich tröstet, sind die Worte von Renate Ohr am Ende unseres Gesprächs. Sie muss Schluss machen, weil Jonny mit einem Schuh im Maul durch den Garten rennt und auf diesem herum beißt. Das tut er immer, wenn sein Frauchen zu lange telefoniert. Zum Glück ist es ein alter Schuh, quasi zum Herummaulen gedacht. Renate Ohr weiß, was Hunde lieben. Seit mehr als 35 Jahren hat die Wissenschaftlerin Boxerhunde als „ständigen Begleiter“ – und stets mit in die Uni mitgenommen. Vier hat sie schon zu Grabe getragen. „Beim ersten war ich furchtbar traurig, weil er überraschend starb“, erzählt sie. „Aber dann habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich mir immer wieder einen neuen Hund holen kann. Und ihn lieben kann. Bei einem Menschen geht das nicht.“