Nicht größer als ein Daumen war der Zwergkönig, seine goldene Krone erreichte kaum die Höhe eines Fingerhutes. Trotz allem Reichtum, der ihn überall umgab, war er traurig, weil er seinen Namen nicht mehr wusste. Jeder der vielen Zwerge nannte ihn nur „Majestät" oder „Eure Hoheit" oder auch nur einfach „Herr König". Sie kannten vielleicht seinen wahren Namen gar nicht einmal. Das betrübte ihn so sehr, dass kein Tag verging, an dem er nicht ein Dutzend Taschentücher nass weinte. Plötzlich kam ihm die Idee, Worte zu sammeln, um dadurch seinen verlorenen Namen wiederzufinden. Er ließ von den Buchbinderzwergen ein dickes Album anlegen und die Schreibzwerge mussten in zierlichen Buchstaben alle gefundenen Worte nach dem Alphabet geordnet eintragen.
Viele tausend Wörter hatten sie nun schon zusammen, doch der gesuchte Name war nicht dabei. Fast gab es kein Wort mehr, das nicht bereits in dem dicken Buch verzeichnet stand. Der König sandte immer wieder seine flinken Diener hinaus in die Welt zu den Menschen, damit Sie neue Worte und Namen erführen, ja, manchmal zog er sich seine Tarnkappe über und wagte sich selbst unter die Menschen - alles umsonst. Da begann er von neuem zu weinen und verzweifelte schier vor Sehnsucht, seinen Namen zu hören.
Einmal hütete draußen vor den Felsen, wo die Zwerge ihr Reich hatten, ein junger Hirtenjunge die Schafe. Er war eine Waise, hatte die Eltern verloren, wohnte noch nicht lange im Dorf und musste die rechten Weideplätze erst kennen lernen; deshalb ließ er die Tiere ihres Weges ziehen und fand sich mit einem Mal vor dem Eingang einer tiefen Höhle. Vorsichtig lugte er hinein, drin funkelte etwas, das ihn ein Edelstein dünkte. Die Schafe grasten friedlich , der Hund saß wachsam dabei; also getraute er sich, ein paar Schritte weiter zu gehen. Tatsächlich, ringsum an den Felswänden leuchtete es gleich einem warmen Feuer von vielen roten Rubinen. Jetzt bellte der Hund, rasch verließ er die Höhle und trieb die Herde heim, doch merkte er sich genau die Stelle und den Weg dorthin.
Am nächsten Morgen lenkte er seine Tiere wieder in Richtung Felsenhöhle. Er fand sie auch sogleich. Diesmal trug er eine Laterne bei sich und war überrascht, wie schön die Edelsteine schimmerten und wie tief sich die Räume unter der Erde dahin zogen. Er wagte jedoch nicht, von den Rubinen einige abzuschlagen und wollte schon wieder ins Freie zurück, als von ihm der kleine Zwergkönig auftauchte.
„Erschrecke nicht", bat er, „vielleicht kannst du mir helfen?"
Nun hatte der Hirtenjunge zwar noch nie einen Zwerg gesehen, doch kannte er das kleine Volk aus mannigfachen Erzählungen seiner Großmutter, die in früheren Zeiten öfter mit ihnen eine Begegnung gehabt hatte. Heutzutage waren sie scheu und zeigten sich nur noch selten einem Menschen. Das wusste er, deshalb hockte er sich in die Knie, damit er das Männlein genauer betrachten konnte, Angst kannte er keine. Schon wisperte der Kleine weiter:
„Wie heißt du? Kannst du mir neue Worte sagen?"
Hans nannte seinen Namen und schnurrte flott viele seltsame Worte her, die ihm gerade so einfielen - sie standen jedoch alle bereits im dicken Buch, das nun von eifrigen Zwergen herbei geschleppt worden war. Nachdenklich saßen sie und überlegten, bis den König ein Hoffnungsstrahl durchzuckte.
„Vielleicht weißt du gar meinen Namen?" flehte er.
Hans erbat sich drei Tage Bedenkzeit, die ihm sofort gewährt wurde. Er verließ die Höhle, trieb heim und setzte sich zur Großmutter am Spinnrad. Dort erzählte er ihr das Erlebnis und trug die Frage des Zwerges vor. Sie besann sich ein Weilchen, dann gab sie ihm den Rat, sich im Innern der Erde sehr aufmerksam umzuschauen und zu lauschen - so werde er den richtigen Namen vernehmen.
Nach drei Tagen erschien Hans wieder bei den Zwergen. Er hatte sich vorsorglich nach allen möglichen Namen erkundigt, aber er war bereit, den Rat der Großmutter zu befolgen, als er feststellen musste, dass es für die fleißigen Sammler keine Neuigkeit mehr gab. Er wurde nun unter die Erde geführt und kam aus dem Staunen kaum heraus - soviel Schätze lagen hier verborgen! Als sie eine riesige Tropfsteinhöhle betraten, begann er zu lauschen. Auf einmal meinte er zwischen dem eintönigen Tropf - Tropf - Tropf Silben zu hören. Aufmerksam geworden, passte er jetzt sehr auf - da! Wieder klang es deutlich: ru - bi - nal - dus! Noch behielt er das Wort für sich, erst wollte er ganz sicher sein, denn schon ging es ein eine Edelsteingrotte hinüber. War das ein Blitzen und Strahlen wie Sonnenglanz! Und plötzlich tauchten vor seinen Augen durch all das Gefunkel leuchtende Buchstaben auf: Rubinaldus - so konnte er entziffern. Nun wusste er genug. Freudig ließ er sich vor die kleine Majestät geleiten und nannte ihn leise:
„Zwergkönig Rubinaldus!"
Der horchte beseligt dem Klang seines Namens nach und dann vollzog sich eine sonderbare Veränderung an ihm - er wuchs und dehnte sich, statt Bart und Grauhaar zierten den nun vor Hans stehenden Jüngling braune Locken. Selbst die Krone war mit gewachsen. Erstaunt schauten sich die beiden an, schon fielen sie einander in die Arme.
„Du hast mich von schwerem Leid befreit", rief Rubinaldus, „nimmt dies zum Lohn!" Dabei reichte er Hans einen faustgroßen Karfunkelstein. Dankerfüllt trug er den zur Großmutter. Jetzt konnten sie ihre Lebtag glücklich und zufrieden sein, denn alle Not hatte ein Ende.
Zwergkönig Rubinaldus - Märchen aus Irland