20.02.17 | Wenn Menschen bei einem Autounfall Familienangehörige oder bei einem Brand ihr Hab und Gut verlieren, dann wird im Raum Dresden oft Tom Gehre an den Einsatzort gerufen. Neben seinem Job als Krankenpfleger arbeitet der Endzwanziger seit Jahren als Notfallseelsorger. Gut eintausend Mal jedes Jahr stehen er und seine rund 400 Kollegen in Sachsen ehrenamtlich Menschen in Notsituationen bei. Und Gehre sagt: "Der Bedarf an dieser psychosozialen Notfallversorgung ist definitiv gewachsen. Das sehen wir anhand der Einsatzzahlen, die sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt haben." Die Gründe seien vielfältig, sagt Gehre. "Ich würde das jetzt nicht nur mit der gestiegenen Terrorangst begründen. Aber was wir erleben ist, dass die Leute erwarten, dass sie im Fall einer Katastrophe adäquat betreut werden. Nicht nur auf medizinischer, sondern auch auf der psychischen Ebene."
Doch genau das könnten Gehre und seine Mitstreiter derzeit nicht leisten, wenn es in Sachsen zu einer Katastrophe käme, zum Beispiel ein Terroranschlag wie auf dem Berliner Weihnachtsmarkt. Pro Opfer gebe es mit Angehörigen, Ersthelfern und Einsatzkräften bis zu zehn Personen, die traumatisiert würden und von Seelsorgern betreut werden sollten, erklärt Gehre. Er leitet das Dresdner Seelsorgeteam und engagiert sich im Fachverband: "In Sachsen haben wir im Fall einer Großschadenslage die Problematik, dass es auf Landesebene keine einheitlichen Standards oder Empfehlungen gibt. Außerdem ist keine Person festgelegt, die in so einem Fall die Koordinierung übernimmt."
Im Ernstfall bräuchte es eine festgelegte Person, die sehr schnell Hilfe aus dem ganzen Land oder weiteren Bundesländern holen und koordinieren kann. Sie müsste auch eine Hotline einrichten. In acht Bundesländern gibt es bereits eine Landeszentrale oder einen Landesbeauftragten für die psychosoziale Notfallversorgung. Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gehören nicht dazu. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe hat mit den Koordinatoren gute Erfahrungen gemacht und empfiehlt so eine Stelle allen Bundesländern.
Den Wunsch der sächsischen Notfallseelsorger nach einer Landeszentrale befürworten zudem Ärzte, Feuerwehrleute und Rettungsdienste des Landes. Doch im zuständigen Innenministerium Sachsens beißen die Seelsorger bisher auf Granit. Eine gesetzliche Verpflichtung bestehe nicht, heißt es aus dem Ministerium. Auf MDR-Nachfrage will es sich nur schriftlich äußern: "Der Landesregierung sind keine Defizite bei der Vernetzung der vorhandenen Angebote in Sachsen bekannt. Insofern wird kein Bedarf zur Einrichtung einer Landeszentralstelle durch die Landesregierung gesehen."
Bei den Grünen im sächsischen Landtag sorgt das für Unverständnis. Valentin Lippmann hält eine Koordinierungsstelle für unbedingt notwendig: "Zum einen entbindet eine fehlende gesetzliche Grundlage nicht davon, es trotzdem zu machen. Zum anderen will ich persönlich nicht darauf warten, dass wir mit Versuch und Irrtum in eine Lage kommen, in der wir erst hinterher merken, dass es Schwierigkeiten nach einem Großschadensereignis wie einem Terroranschlag gegeben hat."
Lippmann zufolge ließe sich eine Landeszentralstelle für die Notfallseelsorge mit wenig Aufwand einrichten. Die Beteiligten um den Dresdner Seelsorger Gehre haben bereits Vorschläge vorgelegt. Gehre hält Ausgaben von rund 250.000 Euro pro Jahr für realistisch, um eine Stelle, ein Büro sowie Weiterbildungen und Übungen abzudecken.