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Darmstadt: Lebensreformer von damals und heute

Hinter dem Lilienbecken erhebt sich der Hochzeitsturm. Er gilt als Wahrzeichen von Darmstadt.

Lebensreformer von damals und heute

Das Plätschern von Brunnen und ein sanftes Blätterrascheln dringen aus dem kleinen Urwald. Er fällt im mondänen Darmstädter Villenviertel mit von Hecken und Mauern gesäumten Gärten aus der Reihe. Und dann noch ein Schild, das Gäste ausdrücklich willkommen heißt. Wie viele Privatgärten es wohl gibt, die man besuchen kann, ohne den Besitzer zu kennen oder zumindest Eintritt zu bezahlen? Gewöhnlich ist hier ohnehin nichts: Helle Pflastersteine in Eiform führen an Buntglas-Lampions mit rätselhaften Kornkreis-Piktogrammen und einem mit Glasperlen beklebten Bronzeengel vorbei in eine Wildnis aus Efeu, Ahornbäumen und Buchen. „Vor 25 Jahren war das ein reiner Thuja-Garten mit Waschbetonplatten auf der Garagenzufahrt", berichtet Eigentümer Henry Nold noch heute empört über den Zustand, in welchem er das 1600 Quadratmeter große Grundstück und die dazu gehörende Art-déco-Villa vorfand.

Der 56-Jährige ist Sohn eines verstorbenen Darmstädter Großaktionärs und hat einen Teil seines Erbes in diese Immobilie gesteckt. Gemeinsam mit seinem Kompagnon, dem Design-Experten Jürgen Lannert, hat er das Anwesen umgestaltet. Nold versteht dies als eine Hommage an die die Darmstädter Mathildenhöhe, ein Jugendstilviertel, das seit 2021 zum Unesco-Weltkultur­erbe zählt und nur ein paar Schritte entfernt liegt. Angefangen hat dort alles 1899. Großherzog Ernst Ludwig lockte Jugendstilkünstler aus ganz Europa in die südhessische Residenzstadt. Sie galten als Trendsetter und brachten frischen Wind in Architektur und Kunst. Die ästhetischen Rebellen verdammten das schwülstige Mobiliar der Eltern im historisierenden Stil und huldigten mit ihrer verspielten Formensprache der Natur. Ornamente und Verzierungen stellten zum Beispiel Rosenranken, Wasserwellen oder wallendes Frauenhaar dar.

Anfahrt Darmstadt ist knapp 240 Kilometer von Düsseldorf entfernt. Mit dem Auto: Auf der A3 Richtung Frankfurt, am Frankfurter Kreuz auf die A5 Richtung Basel, Abfahrt Darmstadt-Eberstadt nehmen. Mit der Bahn: Mit dem ICE nach Mainz und weiter mit der Regionalbahn nach Darmstadt. Vom Hauptbahnhof startet die Buslinie F zur Mathildenhöhe.

Führungen Samstags und sonntags finden jeweils um 11, 14 und 15 Uhr öffentliche Führungen über das Gelände der Mathildenhöhe statt. Information und Buchung unter: da-service@darmstadt.de, Telefon 06151 134513

Hochzeitsturm Von März bis September ist der Aussichtsturm von Montag bis Donnerstag von 10 bis 19 Uhr und von Freitag bis Sonntag von 10 bis 20 Uhr geöffnet.

Informationen Mathildenhöhe Darmstadt, Olbrichweg 15, 64287 Darmstadt, Telefon 06151 133385, www.mathildenhoehe.eu

Unter dem Mastermind, dem Architekten und Desi­gner Joseph Maria Olbrich, der aus der Jugendstil-Metropole Wien nach Darmstadt umzog, versammelten sich die künstlerischen Aktivisten auf der Ma­thildenhöhe. Ihr Ziel: das Viertel im Osten der Stadt in ein Gesamtkunstwerk zu verwandeln. Die Neubürger bauten sich dort Villen mit Dächern, Wandgestaltungen und Gartentor-Verzierungen, die damalige Konventionen auf den Kopf stellten. Markante Bauwerke entstanden wie etwa der Hochzeitsturm - bis heute das Wahrzeichen der Stadt. Sein Dach besteht aus fünf Bögen, die wie die Finger einer Hand aussehen. „Es stellt eine Hand beim Schwur dar und symbolisiert die Treue der Darmstädter zum Großherzog", interpretiert Mathildenhöhe-Expertin Karin Walz, die dort Führungen gibt, die Form.

Architekt Olbrich widmete den Aussichtsturm dem Großherzog zu dessen zweiter Heirat. Heute sind darin zwei Zimmer des Darmstädter Standesamtes untergebracht, weshalb sich in dem davor befindlichen Platanengarten regelmäßig Hochzeitsgesellschaften zwischen herzförmigen Luftballons und Konfetti zuprosten.

Wer sich indes auf den Weg vorbei am monumentalen Atelierhaus der Künstlerkolonie macht, steht nach zwei Rechtsabbiegungen direkt vor Nolds Anwesen. Mit seinem grünen Reich möchte er an die Lebensreformer und Jugendstilkünstler des frühen 20. Jahrhunderts anknüpfen. Überall auf dem Grundstück lässt sich etwas entdecken: kleine Amphoren, Insektenhotels oder ein aus schmalen Ästen gezimmertes Bücherregal.

In diesem Paradies ist nichts dem Zufall überlassen. Die Anlage ist streng nach kosmologischen Zahlenverhältnissen konstruiert. Auch die Kornkreis-Symbolik taucht immer wieder auf, auf den Gartenlaternen genauso wie auf Fliesen oder Zimmerschlüsseln im Haus. Allgemein gelten Kornkreise als mysteriöse Land-Art-Projekte, für die in Getreidefeldern Halme so umgeknickt oder gemäht wurden, dass sie aus der Luft wahrnehmbare Muster ergeben. Vor allem in England sind sie verbreitet. „Wie sie entstehen, weiß man nicht", versichert Jürgen Lannert, seit 22 Jahren Artist in Residence in der Villa. Er empfängt seine Gäste im maßgeschneiderten Anzug aus Himalaya-Brennnesseln. Schon mit 14 Jahren hat er sich Design-Zeitschriften aus halb Europa schicken lassen, später eine Schreinerlehre gemacht sowie Kunst und Architektur in London und New York studiert. Seit zwei Jahrzehnten widmet er sich nun dem Darmstädter Projekt, für ihn eine Lebensaufgabe.

Dass auch Touristen den Garten betreten dürfen, empfindet Lannert nicht nur als noble Geste. „Wenn wir sehen, wie die Besucher das nutzen, ist das auch für uns eine In­spiration", sagt er und lächelt, während vor dem Wohnzimmerfenster gerade ein Mädchen im Gästebuch aus rosa Kunstleder stöbert.

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