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Geliebt und gehasst: Der russische Rapper Morgenshtern spaltet die Gesellschaft

Berlin - In dem YouTube-Video „Novaja Volna" (Neue Welle) betritt ein Geistlicher in einem weißen Gewand eine Kirche in Catania auf Sizilien. 30 Minuten bleiben der Menschheit, bis die Erde von einem Kometen getroffen wird. Der Geistliche tritt vor die Gläubigen, blickt in verzweifelte Gesichter, schlägt seine Bibel auf, findet in einem versteckten Fach eine Ecstasy-Tablette, schluckt sie - und tanzt wild in der Kirche umher. Zur Verwunderung aller Anwesenden. Elektronische Klänge und stumpfer Bass: Wie besessen singt der Geistliche, der sich als Rapper entpuppt: „Was wäre, wenn wir morgen sterben würden?" Ein Frauen- und Männergesang antwortet: „Ich bin die Welle, die neue Welle."

Die Gläubigen zögern, tanzen dann und feiern ihr Leben. Von einem Moment zum anderen verwandelt sich der Rapper von einem Priester in einen Teufel im schwarzen Anzug. Drei Sechsen zieren sein Gesicht. Auf der anderen Seite: ein Drudenfuß. Aus der andächtigen Prozession wird eine wilde Party, die in der Vernichtung der Menschheit, in der Apokalypse endet. Morgenshtern, so heißt der Rapper dieses Liedes. Der Teufel des russischen Rap verführt in Russland, aber auch weltweit mit seinen nihilistischen und dekadenten Liedern die Generation Z. Auf YouTube - und vor allem auf Tiktok. So wie mit dem Lied „Novaja Volna" (Neue Welle), das er mit dem russischen DJ Smash neu aufgelegt hat. Wer ist dieser Rapper, der die Jugend so begeistert?

Die Wochenendausgabe

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen - jeden Samstag am Kiosk oder hier im Abo. Jetzt auch das neue Probe-Abo testen - 4 Wochen gratis Am 19./20. Juni 2021 im Blatt: Wie Tag und Nacht: Warum der Gleisdreieckpark abends zur Gefahrenzone wird. Die große Reportage Street-Style Berlin: die Kreuzberger Oranienstraße ist ein Showroom für Tattoos. Wir haben uns umgeschaut Der Abgeordnete Marcel Luthe von den Freien Wählern fühlt sich als Berlins Politiker-Sheriff. Was treibt ihn an? Die Springer-Medien sagen, Carolin Emcke sei antisemitisch. Wir sagen: Das ist hysterisch. Außerdem: die großen Food-Seiten. Unser Kritiker hat sich das Restaurant Borchardt angeschaut und findet es überschätzt https://berliner-zeitung.de/wochenendausgabe

Die Brille kostet so viel wie das Gehalt des Rektors

„Mein Name ist Alisher Morgenshtern. Ich bin 19 Jahre alt und werde in Armut sterben." Das waren die ersten Worte eines YouTube-Videos, das im Mai 2017 veröffentlicht wurde. Alisher Morgenshtern, dessen Eltern sich scheiden ließen, als er elf Jahre alt war, wurde 1998 mit dem Nachnamen Valeyev geboren. In dem Video sagt Alisher, dass er wegen eines im Internet hochgeladen Clips von der Universität geworfen wurde.

In dem skandalösen Video bietet Alisher einem Schulmädchen an, Sex auf der Toilette zu haben. Später rechtfertigte er diesen Ausrutscher mit der Tatsache, dass es sich bei dem Mädchen um eine erwachsene Bekannte handelte. Die Universitätsbehörden interessierten sich nicht für Morgenshterns Argumente. Der Student wurde zwangsexmatrikuliert.

Ein Jahr später, da ist Morgenshtern schon dank seiner YouTube-Klick-Erfolge ein bekannter Rapper, nimmt er ein weiteres Video auf. Darin fährt er in einem Auto mit einem Fahrer bei seiner ehemaligen Universität vorbei. Als er aus dem Auto steigt, sagt Alisher, er sei 20 Jahre alt, aber seine Brille koste so viel wie das Gehalt des Rektors. Und er habe ein Schmuckstück um den Hals, das zehn Rektorengehälter wert sei. Vor dem Universitätsgebäude entfaltet er ein blaues Tuch und behauptet, in einer Minute eine halbe Million US-Dollar zu verdienen.

Der Stil populärer russischer Rapper

Die Geschichte illustriert perfekt den Charakter des heute 23-jährigen Musikers. Morgenshtern kann sich nicht in das bestehende russische Gesellschaftssystem einfügen, unterordnen, eingliedern. Er verdient sein Geld damit, sich unkonform zu verhalten. Verrückte Frisuren und Gesichtstattoos sind sein Markenzeichen.

Der Ruhm ließ nicht lange auf sich warten. Schon vier Monate nach der Einführung der neuen Rubrik „Easy Rap" auf seinem YouTube-Kanal erreichte Morgenshtern 13 Millionen Aufrufe innerhalb eines Monats.

Subtile Systemkritik

Der Rapper schrieb weitere Rap-Songs, ritt auf der Welle des Erfolgs, stritt sich mit populären Bloggern und Präsidentschaftskandidaten. „Dabei interessiere ich mich gar nicht für Politik", sagt der junge Rapper in einem YouTube-Video. Alisher zog 2018 nach Moskau und veröffentlichte sein erstes Album, das von den einen frenetisch gefeiert und von den anderen verachtet wurde. Einer von Morgenshterns Tracks namens „Pososi" - zu Deutsch: „Lutsch ihn" - ist mit 2,5 Millionen Dislikes das am meisten gehasste Video auf YouTube in Russland. Der explizite Song ist eine Ode an Morgenshterns Reichtum.

Der Clip zeigt seine große Datscha und andere Symbole von Morgenshterns Wohlstand. Und man versteht, warum der Rapper eine große Fangemeinde unter russischen, aber auch deutschrussischen Teenagern hat: Der Song ist perfekt, um ihn über Bluetooth-Lautsprecher in örtlichen Einkaufszentren anzuschmeißen. So provoziert die russische Jugend mit Vulgärsprache die Elterngeneration und betreibt auf subtile Weise Systemkritik.

Ein jugendlicher Dämon mit Gesichtstattoos und wilden Haaren

Morgenshtern ist nicht der beste Rapper, aber einer der erfolgreichsten. Er arbeitet mit jedem politischen und künstlerischen Lager zusammen. Mit Systemkritikern wie dem Rapper Face, aber auch mit Pro-Putin-Rappern wie Timati. Trotz seiner gesellschaftlich zweideutigen Haltung ist Morgenshtern mittlerweile einer der größten Namen in der russischen Musikindustrie. Gibt man auf Tiktok den Hashtag „morgenshtern" ein, erscheinen über 2,9 Milliarden Aufrufe. Sogar der amerikanische Basketballspieler Shaquille O'Neal lud auf Tiktok ein Video hoch, in dem er gemeinsam mit seinem Sohn zu einem der Songs des Rappers tanzt.

Morgenshtern wird vor allem von den Jungen geliebt, bei den Alten erntet er Kopfschütteln. Er inszeniert sich als Dämon mit Gesichtstattoos und wilden Haaren, der von Reichtum und Überfluss singt. Trotz seiner Skandale wurde er in Russland 2020 als Mann und Musiker des Jahres ausgezeichnet. Dass der junge Rapper in Armut stirbt, wird sich als Lüge erweisen. Wie es beim Teufel eben so ist.

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen - jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.
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