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"Der Sport hat mir viel mehr gegeben als genommen"

Die Leichtathletin Marianne Buggenhagen nahm an sieben Paralympischen Spielen teil und gewann neun Mal Gold. Am Freitag feiert sie ihren 70. Geburtstag - und trainiert aktuell mit einer Nachwuchsathletin für die Special Olympics World Games in Berlin. Von Anton Fahl

Ihren Ehrentag verbringt Marianne Buggenhagen ganz ruhig. Die Para-Sportlerin aus Bernau, die zu den erfolgreichsten deutschen Sportlern aller Zeiten zählt, feiert ihren 70. Geburtstag nur mit ihrem Mann zusammen auf Usedom. Früher, so erzählt sie, habe sie ihre runden Geburtstage immer groß gefeiert. Aber mittlerweile könne sie ihren vielen Gästen nicht mehr gerecht werden.

Gefeiert hat die mehrfache Welt- und Europameisterin in ihrem Leben zudem schon jede Menge. Sie nahm sieben Mal an Paralympischen Spielen teil und gewann dabei insgesamt neun Goldmedaillen. All das hat sie erreicht, um zu dem bescheidenen Fazit zu kommen: "Ich glaube, ich habe auch einen ganz kleinen Beitrag dazu geleistet, dass der Para-Sport wirklich eine Wertigkeit bekommt."

Bei den Paralympischen Spielen in Rio de Janeiro verabschiedete sich Buggenhagen im Jahr 2016 von der großen, internationalen Bühne des Sports - im Alter von 63 Jahren. "Ich habe alles daran gesetzt und wollte mit einer super Leistung aufhören. Das Jahr davor bin ich noch zwei Mal Weltmeister geworden - und in Rio habe ich Silber erkämpft", so Buggenhagen, die im Laufe ihrer Karriere im Fünfkampf, Speerwurf, Kugelstoßen und Diskuswurf, ihrer Paradedisziplin, Goldmedaillen gewann.

Seit 1977 querschnittsgelähmt

Mit Anfang 20 erlitt Buggenhagen mehrere Bandscheibenvorfälle, die Operationen und Komplikationen nach sich zogen. Seit 1977 ist sie querschnittsgelähmt und sitzt im Rollstuhl. Zu dieser Zeit war Buggenhagen bereits eine ausgebildete Krankenschwester in Berlin-Buch, führte eine Station, wie sie sagt, und konnte ihren Beruf fortan nicht mehr ausüben. "Ich bin in ein tiefes Loch gefallen. Heute sagt man, glaube ich, Depression dazu", erinnert sie sich.

Von da an arbeitete sie als Sozialarbeiterin: "Ich hatte das Gefühl: Ich werde gebraucht. Das war für mich das Aller-, Allerwichtigste." Glück im Unglück, wie sich schon schnell bewahrheiten sollte: "Kurze Zeit danach habe ich meinen Mann kennengelernt, war seine Erzieherin. Erst erzogen, dann geheiratet!", witzelt Buggenhagen über ihren Ehemann Jörg, der ebenfalls im Rollstuhl sitzt und mit dem sie seit 45 Jahren verheiratet ist. Ohne ihn hätte sie ihre Rekorde und Erfolge "nie, nie errungen", wie sie sagt. "Überhaupt war er die letzten Jahre absolut die Stütze. Wie oft hat er mir das Abendbrot ans Bett gebracht, weil ich von Arbeit und Training so geschafft war."

Nachdem Buggenhagen in jungen Jahren Volleyball gespielt hatte, entdeckte sie nach ihrem Schicksalsschlag zunächst Rollstuhl-Basketball, dann Leichtathletik für sich. Sie wurde Mitglied in der Betriebssportgemeinschaft Medizin Buch und nahm unter anderem an DDR-Meisterschaften teil.

"Exoten" in Barcelona

Ihren ersten großen Auftritt vor internationalem Publikum hatte Buggenhagen im Jahr 1992, wenige Jahre nach dem Mauerfall, bei den Paralympics in Barcelona - und gewann direkt Gold. "Wir waren noch Exoten. Die DDR war abgewickelt und zwei Jahre später waren wir wirklich noch Exoten", so Buggenhagen. "Und dann habe ich wirklich gewonnen, stand da oben auf dem Treppchen und es wurde eine Hymne gespielt, mit der ich gar nichts anfangen konnte."

Für Buggenhagen sollten es buchstäblich goldene 90er Jahre werden. Bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Berlin im Jahr 1994 gewann sie vier Goldmedaillen und wurde im selben Jahr als erste - und bis heute einzige - behinderte Athletin zu "Deutschlands Sportlerin des Jahres" gewählt - unter anderem vor Tennisspielerin Steffi Graf und Schwimmerin Franziska von Almsick.

Ein bemerkenswerter Erfolg, der für Buggenhagen dennoch einen faden Beigeschmack hatte: "Schlimm fand ich, dass alle ins Sportstudio eingeladen wurden und ich ins Gesundheitsmagazin. Das fand ich eigentlich ein bisschen deprimierend." Doch für die Leichtathletin war klar: "Jetzt bringst du den Behinderten-Sport dadurch nach vorne!"

Der Wunsch nach größerer Anerkennung

Im Jahr 2008, bei den Paralympischen Spielen in Peking, stellte Buggenhagen dann sogar einen Weltrekord auf, der bis heute Bestand hat: 27,80 Meter im Diskuswerfen. Über ihre Lieblingsdisziplin sagt sie: "Da sieht man die Weite. Ich habe auch die Kugel gestoßen, aber da stößt man acht, neun Meter. Und den Diskus wirft man über 27 Meter und den kann man ganz anders beeinflussen."

Beeinflusst hat Buggenhagen mit ihren Erfolgen ganz gewiss auch die öffentliche Wahrnehmung des Para-Sports. Schon vieles habe sich über die Jahre verändert, meint Buggenhagen. "Heute spielt die Leistung eine Rolle. Da wird gesagt: 'Frau Buggenhagen hat über neun Meter gestoßen.' Vorher hätten Reporter gesagt: 'Sie ist in einem Rollstuhl gekommen.'" Die Beeinträchtigung sei im Vergleich zur Leistung lange Zeit vordergründig gewesen. "Ich wünschte mir aber natürlich, dass die Anerkennung größer wäre und dass viele, viele Jugendliche mit Beeinträchtigung den Weg zum Paralympischen Sport, und überhaupt zum Sport, finden."

Die Erfüllung dieses Wunsches treibt sie nun selbst maßgeblich voran. Nach dem Ende ihrer aktiven Laufbahn im Jahr 2016 blieb sie dem Sport, selbstverständlich, erhalten. Ehrenamtlich sorgt sie sich nun um den sportlichen Nachwuchs: So trainiert sie etwa die 17-jährige, geistig beeinträchtigte Athletin Heidi Kuder im Kugelstoßen, die im Juni an den Special Olympics World Games in Berlin teilnehmen wird.

Gemischte Gefühle vor den Special Olympics in Berlin

"Gerade im Umland von Berlin haben wir großes Potenzial und ich habe nie gehört, dass da jemand Sport macht. Ich weiß, wie wichtig der Sport gerade für Beeinträchtigte ist und habe gesagt: 'Da musst du was machen!'", sagt Buggenhagen. "Aber es war so schwierig, Vereine zu finden, die bereit sind, Beeinträchtigte aufzunehmen und mit ihnen zu trainieren. Da habe ich schon manchmal Hörner gekriegt. Aber wir haben einen Verein gefunden, in dem ich auch die Heidi kennengelernt habe. Und jetzt trainieren wir seit fast zweieinhalb Jahren und seit einem Jahr ganz intensiv für die Special Olympics."

Doch so langsam macht sich selbst bei Buggenhagen das fortschreitende Alter bemerkbar: Sie sei froh, wenn die Special Olympics vorbei seien und sie sich mal eine Auszeit nehmen könne, "weil ich merke, dass ich an meine körperlichen Grenzen komme."

Bis dahin lautet die Devise für die Spiele in Berlin, bei denen vom 17. bis 25. Juni 7.000 Athletinnen und Athleten aus 190 Ländern an den Start gehen werden: "Wir werden jeden Tag im Stadion sein, alle Athleten anfeuern - Heidi natürlich besonders!"

Schließlich lebt Buggenhagen, das muss man fast so sagen, für den Sport. "Der Sport hat mich selbstbewusster gemacht. Er hat mich selbstständiger gemacht - er ist mir aber auch auf die Füße gefallen. Dadurch, dass ich verkürzt gearbeitet habe, habe ich natürlich jetzt eine viel geringere Rente", sagt Buggenhagen. Und dennoch kommt sie nach 70 Jahren zu dem Schluss: "Ich würde den gleichen Weg aber wieder gehen, weil der Sport mir viel mehr gegeben als genommen hat."

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