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"Es ist erschreckend, wie wenig im Schulbau auf die Bedürfnisse der Schüler geachtet wird," schimpft Christian Rittelmeyer. Rittelmeyer ist emeritierter Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Göttingen. Seit über dreißig Jahren erforscht er Schulbauten und was Kinder von ihnen halten.
Für Studien hat er Schülern Bilder von Schulen vorgelegt und sie gefragt, wie die Gebäude auf sie wirken. "Kasernenbauten", "Blechkästen" und "Gefängnisse" sind nur einige der negativen Bezeichnungen, die Rittelmeyer bei den Schülern eingesammelt hat.
Doch diese Einschätzungen spielen für Schulplaner keine Rolle. Derzeit hat der Schulbau in Großstädten Hochkonjunktur. In Berlin steht gerade die nächste "Schulbauoffensive" an, denn die Stadt wächst. Und vor allem: Sie hat immer mehr schulpflichtige Kinder. Deswegen will Berlin bis 2026 für 2,8 Milliarden Euro 60 neue Schulen bauen.
Städte unter Druck
In anderen Großstädten sieht es nicht anders aus. Mit 25 Prozent mehr Schülern rechnet Hamburg in den kommenden Jahren und steckt nun vier Milliarden Euro in den Neu- und Ausbau von Schulen. Frankfurt am Main hat ausgerechnet, dass bis 2022 über 20 Prozent mehr Grundschulplätze im Vergleich zu 2016 benötigt werden. Auch in Köln und München steigen die Schülerzahlen kontinuierlich. Die Städte stehen unter Druck.
Doch die Studien von Christian Rittelmeyer und anderen Autoren zur Schulbauforschung scheinen den heutigen Stadtplanern unbekannt zu sein. Die Forderung, Schulgebäude den Bedürfnissen ihrer Nutzer entsprechend zu bauen, wird kaum berücksichtigt, sagt Rittelmeyer: "Es hat sich erstaunlich wenig geändert."
Für ein Umdenken im Schulbau setzt sich auch Barbara Pampe ein. "Man könnte es als eine Chance sehen und den aktuellen Bedarf nutzen, um zu experimentieren und tolle, innovative Schulen zu bauen", sagt die Architektin von der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft. Die Stiftung pocht vor allem darauf, der sogenannten Phase 0, in der die Anforderungen an die Gebäude ermittelt werden, mehr Zeit einzuräumen.
"Bei jedem Bürogebäude wird erst einmal gefragt, welche Funktionen es erfüllen muss, beim Schulbau ist das leider noch die Ausnahme", so Pampe. Doch den Städten mangelt es an Zeit, Geld und Platz. Was dazu führt, dass eher schnelle, kostengünstige und platzsparende Lösungen bevorzugt werden - mit weitreichenden Folgen.
So hat sich das Land Berlin aktuell für die Typenbauweise entschieden. Das bedeutet: Es gibt fünf neue, baugleiche Schulen mit drei Klassen pro Jahrgang, dazu sechs weitere vierzügige Schulen. In einer zweiten Bauwelle sollen noch einmal so viele Gebäude hinzukommen - insgesamt also mehr als 20 Schulen der gleichen Bauart. "Vermassung" nennt Rotraut Walden, Privatdozentin für Psychologie und Architekturpsychologie an der Universität Koblenz, diese Art zu bauen.
Und von dieser Vermassung hält die Psychologin nichts: "Eine Schule muss Identität herstellen und Geborgenheit schaffen. Das geht nur über individuelle Bauweisen." Erziehungswissenschaftler Rittelmeyer kann dem ebenfalls nichts abgewinnen: "Auch beim Schulbau müssen die Örtlichkeiten berücksichtigt werden. Kinder nehmen das als negativ und verstörend wahr, wenn ein Gebäude nicht in die Umgebung passt".
Auch in Hamburg werden neue Schulen gebaut, 30 Gebäude in den nächsten zehn Jahren. Zusätzlich forciert die Schulbehörde den Ausbau bereits bestehender Einrichtungen. Man wolle "bestehende Schulen sanieren und ausbauen und auch die Raumreserven einzelner Schulen nutzen", heißt es beim Senat. Ausgebaut werden soll auch die Max-Brauer-Schule im Stadtteil Altona, eine Grund- und Gesamtschule mit insgesamt rund 1500 Schülern. Die Grundschule soll nach dem Willen des Hamburger Bildungssenators Ties Rabe von drei auf sechs Züge verdoppelt werden - und dagegen stemmen sich nun die Eltern.
Sie fürchten eine Massenschule in einem mehrstöckigen Bau, in dem sich die Grundschulkinder nicht zurechtfinden, und einen zu kleinen Schulhof, auf dem Spielen und Toben kaum möglich ist. Die Fronten sind verhärtet. Die Eltern werfen dem Bildungssenator vor, sich nicht ausreichend um alternative Standorte zu kümmern. Der Bildungssenator wirft der Elternschaft Egoismus vor und suggeriert, dass sie die einzigen seien, die sich gegen seine Pläne stemmen würden.
Mehr als 500 sollten es nicht sein
Angesichts solcher Entwicklungen stellt sich die Frage: Wie viel Platz braucht ein Kind tatsächlich? Und wie viele Kinder kann man in ein Gebäude stecken, ohne dass das einzelne Kind in der Masse untergeht?
Was die Schülerzahlen angeht, sind sich die Experten einigermaßen einig. Walden und Rittelmeyer finden die Zahl von rund 500 Schülern, die die Grundschule nach dem Ausbau besuchen würden, durchaus akzeptabel - vorausgesetzt, dass die Schülerzahl pro Klasse die 25 nicht überschreitet und die Architektur stimme. Was so eine Architektur leisten muss, erklärt Christian Rittelmeyer: Die Bauten sollten nicht allzu groß sein; man solle zergliedert bauen, um kleine Einheiten zu schaffen. Wichtig seien auch viele Pflanzen, dazu Springbrunnen, Wasserläufe und Flurlandschaften, in denen man sich in Ecken zurückziehen könne.
Architektin Pampe dagegen bezweifelt, dass sechszügige Grundschulen eine Lösung sind. Zu große Schulkomplexe seien später - wenn die Schülerzahlen wieder zurückgehen - kaum anders zu nutzen.
Beim konkreten Flächenbedarf ist die Datenlage dürftig. Fünf Quadratmeter Schulraum pro Kind ist das Minimum, das durch alle Publikationen geistert. "Ein Schüler muss so viel Platz haben, dass er sich mit ausgebreiteten Armen um die eigene Achse drehen kann", sagt Rotraut Walden. "Soziale Dichte" nennen Wissenschaftler den Wert, der beschreibt, wie viele Menschen auf einer bestimmten Fläche zusammenkommen. Eine zu hohe soziale Dichte erzeugt ein Gefühl von Enge - und das führt, so legen es mehrere Studien nahe, dazu, dass Kinder schlechter lernen und aggressiver werden.
Diese Ergebnisse stammen aus der Verhaltensforschung. Was in dieser Forschung nicht berücksichtigt wird, ist die Frage, wie viel Raum ein Kind braucht, um sich ausreichend zu bewegen. Und hier kommt der Schulhof ins Spiel. Acht Quadratmeter sieht Berlin pro Schüler vor, in München sind es drei, in Hamburg neun bis 13. In Köln und Frankfurt gibt es keine Vorgaben.
Über diese Zahlen kann Hermann Städtler nur müde lächeln. "15 bis 20 Quadratmeter wären schon sehr wünschenswert", sagt er. Städtler leitet das Projekt "Bewegte Schule", das vom Land Niedersachsen initiiert wurde. Das Projekt beschäftigt sich mit der Frage, wie man Kinder in der Schule dazu bringt, sich ausreichend zu bewegen. "Eine abwechslungsreiche Schulhofgestaltung ist wichtig, aber am Platz darf es natürlich auch nicht mangeln", fasst Städtler die Anforderungen zusammen.
Da Kinder durch den Trend zum Ganztag immer mehr Zeit in der Schule verbringen, sei es nun Aufgabe der Schulen, dafür zu sorgen, dass sie ausreichend Bewegung bekämen. Hermann Städtler betont die positive Seite: "Das Problem, dass sich Kinder zu wenig bewegen, hatten wir schon vor dem Ausbau des Ganztags. Jetzt hätten wir eigentlich viele Möglichkeiten, Kinder zu Bewegung und Spiel zu motivieren."
Hamburg und die anderen Großstädte täten also gut daran, sich frühzeitig Grundstücke für den Bau weiterer Schulen zu sichern. Was passiert, wenn Kommunen diesen Zeitpunkt verpassen, zeigt das Beispiel Frankfurt: Weil es einfach keine Grundstücke mehr in öffentlicher Hand gibt, sucht die Stadt per Anzeigen nach geeignetem Baugrund. Sogar Partnerschaften mit privaten Investoren sind nicht mehr ausgeschlossen.
Das Modell klingt simpel: Ein Privatunternehmen kauft ein Grundstück, baut ein Gebäude und vermietet das dann an die Stadt zurück. So hatten einige Kommunen in den Neunzigerjahren Bauvorhaben umgesetzt. Doch schnell zeigte sich, dass sich das Modell finanziell nicht lohnt und die Stadt keine Möglichkeit hat, Änderungen am Gebäude vorzunehmen, wenn sich etwa das pädagogische Konzept ändert.
Architektin Barbara Pampe sieht noch einen anderen Ausweg aus der Platznot: "Man muss bei der Raumsuche kreativer sein. Auch Bürogebäude, Kirchen und Industriebauten lassen sich in Schulen umwandeln. Und warum nicht auch mal über Hybridbauten nachdenken, in denen Schule und Wohnungen oder Büros untergebracht werden?"
Zusammengefasst: Steigende Schülerzahlen setzen die Städte derzeit massiv unter Druck, weil nicht genügend Schulen und Klassenzimmer zur Verfügung stehen. Experten empfehlen, beim Um- und Neubau auch Schüler mitreden zu lassen. Doch die meisten Kommunen setzen auf alte Rezepte, bauen standardisierte Klassenzimmer und Schulen von der Stange und vergeben damit die Chance auf eine bessere Lernumgebung mit größerer Bewegungsfreiheit.