Morgens halb zehn in St. Petersburg. Es ist noch dunkel und wir sitzen im Bus mit Julia Goloviznina, der Direktorin der russischen Wohltätigkeitsorganisation „Schag Navstrechu", zu Deutsch „Schritt aufeinander zu". Gemeinsam sind wir auf dem Weg nach Pavlovsk, zum Behindertenheim „Nummer Vier". Mehr als vierhundert Kinder und Jugendliche mit psychischen und physischen Behinderungen leben in diesem Heim. Fast eine Stunde sind wir jetzt schon unterwegs. Die leuchtende Fassade von St. Petersburg ist längst verschwunden - anstelle der Eremitage sieht man verlassene Autohäuser, später Wiesen und Bäume.
„In Zeiten der Sowjetunion war eines völlig klar: Die Gesellschaft braucht keine behinderten Menschen", - erzählt Julia Goloviznina. - „Sie waren quasi unsichtbar, es sollte der Eindruck erweckt werden, dass sie nicht existieren. Um sie zu verstecken, befanden sich viele Behindertenheime weit entfernt vom Stadtzentrum, in den Vororten. Bis heute ist Situation in ganz Russland gleich - St. Petersburg ist da keine Ausnahme".
Auf dem Weg zum Behindertenheim passieren wir majestätische Parks und die ehemalige Sommerresidenz des russischen Zaren. Nach einer Weile lassen wir den Prunk hinter uns, langsam werden die Häuser kleiner und vor uns erscheinen vier große, flache Gebäude. Davor ein verlassener Spielplatz, der im knöcheltiefen Matsch versinkt. In der Ferne erkennt man die Silhouette von Rollstühlen, die darauf schließen lassen, dass die Kinder in diesem Heim besondere Zuwendung brauchen. Elena Samoilova arbeitet seit acht Jahren als Sportlehrerin in Pavlovsk: „Wir müssen mit allen Kindern individuell arbeiten. Das Schwierigste ist natürlich, sich für jedes Kind einen eigenen Plan auszudenken. Jedes Kind hat eine andere Behinderung und demnach unterschiedliche Bedürfnisse. Die Wichtigste ist, dass man das Kind in seiner Entwicklung immer fördert und ihm nicht schadet".
Manche Eltern würden ihre Kinder ins Heim geben, weil sie selbst mit ihnen überfordert seien, erzählt Samoilova. Andere Kinder haben gar keine Eltern mehr . Viele von ihnen sind von Geburt an beeinträchtigt. Sie sind autistisch veranlagt oder haben das Downsyndrom. Klar ist, die Sozialarbeiter in Pavlovsk können diese Kinder und Jugendlichen nicht heilen. Sie können aber versuchen, sie auf die Zeit nach dem Heim vorzubereiten und ihnen beibringen, sich selbst anzuziehen, Zähne zu putzen und mit Besteck zu essen. Die Leiterin der Freiwilligen, die 26-jährige Nadeschda Hramova, meint dazu: „Bei uns sollen die Kinder vor allem selbstständig werden. Denn sobald sie 18 sind, müssen sie uns verlassen und in Erwachsenenheime gehen. Da gibt es weniger Personal, also auch weniger zwischenmenschliche Kommunikation. Je mehr ein Kind selber machen kann, desto höher ist seine Lebensqualität. Hier zum Beispiel ist Tanja, sie wird bald in ein Erwachsenenheim wechseln. Wir versuchen, ihr bis dahin beizubringen, selber mit dem Löffel umzugehen... Jetzt ist sie 18 Jahre alt.
Tanja trägt ein rosafarbenes Kleid und hat die Statur einer Siebenjährigen. Sie hat Glück, dass sich die Arbeitsweise russischer Behindertenheime in den letzten Jahren stark gewandelt hat. Während die Kinder früher vor allem physisch betreut wurden, legen die Angestellten der Heime jetzt mehr Wert auf die emotionale Entwicklung ihrer Schützlinge. So auch Julia Bolhovitina, sie ist eine der Freiwilligen und engagiert sich seit Februar in Pavlovsk.
„Veränderungen? Große Veränderungen? Veränderungen gehen hier sehr langsam vor sich", - so Julia Bolhovitina. - Wir haben jetzt einen Teppichboden, das ist ja auch eine Veränderung. Aber ganz im Ernst - es tut sich wirklich etwas: Die Kinder werden jetzt nicht mehr so sehr in einen Rahmen gepresst, sondern haben viel mehr Freiheiten".
Dem Behindertenheim geht es dank Julias Golovizninas Organisation „Schag Navstrechu" vergleichsweise gut. Trotzdem mangelt es ihm - wie allen anderen Heimen in Russland - an Geld und Personal. Die Unterstützung vom Staat umfasst nur das Mindeste. So zeigt uns Freiwilligenkoordinatorin Nadescha Hramova eine Gruppe erwachsener Jungen, deren Betreuer heute krank ist: „Schauen Sie sich diese Kinder an. Sie sitzen einfach so an ihren Tischen, ohne Spielzeuge. Wenn kein Lehrer oder Freiwilliger für sie Zeit hat, sitzen sie einfach nur da".
Die freiwilligen Mitarbeiter sollen den Personalmangel des Heimes ausgleichen und gleichzeitig Bezugsperson sein. Bei durchschnittlich zehn Kindern pro Gruppe ist das keine einfache Sache. Eine professionelle Ausbildung brauchen freiwillige Mitarbeiter in Pavlovsk trotzdem nicht. Was ihnen an Fachwissen fehlt, gleichen sie - so wie Julia Bolhovitina - in erster Linie mit ihrem Enthusiasmus wieder aus.