Wandern, verdammt, warum gehen wir nicht einfach wandern? Ich sage das nicht fröhlich, sondern wütend und durch die Zähne. Schuld daran ist mein Vater. In letzter Zeit holpert es in der Vater-Tochter-Beziehung. Wir sind uns fremd geworden, seit wir mehr als 700 Kilometer voneinander entfernt wohnen. Meinem Vorschlag der gemeinsamen Freizeitgestaltung ging eine Diskussion über fehlende gemeinsame Interessen voraus. Mein Vater verbringt seine freie Zeit gerne in kontemplativer Versenkung, er meditiert, liest, sauniert, beschäftigt sich mit dem eigenen Tod. Ich diskutiere gerne, bin politisch interessiert und eher so der aktive Typ.
Wie wird das so werden mit uns? Drei Tage nur Wald, Tafelberge, tiefe Schluchten, in den Himmel ragende Felsnadeln und wir zwei. Werden wir streiten? Werden wir Fuchs und Hase mit unserem Lamentieren verjagen? Wird einer von uns verfrüht abreisen?
Wir starten in Pirna, Ostsachsen, es ist früh am Morgen, die Nacht haben wir in einer Pension verbracht. Von dort lassen wir uns zum Malerweg im Liebethaler Grund fahren. Die ersten Kilometer laufen wir an der gurgelnden Wesenitz entlang, der Wald gehört uns ganz allein, niemand sonst ist hier am frühen Morgen unterwegs.
Unser Wanderweg ist nach den vielen romantischen Malern benannt, die im 18. Jahrhundert auf der Dresdener Kunstakademie studierten und für ihre Naturbetrachtungen ins Elbsandsteingebirge wanderten. Der berühmteste von ihnen war Caspar David Friedrich, dessen Wanderer im Nebelmeer von einem der hohen Sandsteinfelsen hinunter ins wolkenverdeckte Tal blickt und die Stimmung der Romantik einfängt wie kaum ein anderes Bild. Zu meinem Vater passt diese Epoche hervorragend, er ist ein schwärmerischer Mensch. Schon nach den ersten Metern im Wald bleibt er stehen und sagt: "Hey, wow, ist das schön hier." Bei seinen Betrachtungen von Fauna und Flora haut er mir sein Repertoire an begeisterten Adjektiven und Umschreibungen um die Ohren: Faszinierend, wahnsinnig, fantastisch, fabel- und sagenhaft, einmalig, wie im Märchen. Dann atmet er tief ein und aus und sagt: "Ach, dieser Frühling stärkt einfach die Sinne!"
Die Romantik war eine ziemliche SchummeleiIn unserem Wanderführer sind viele Aussichtspunkte und Sehenswürdigkeiten abgebildet, die von romantischen Malern wie Adrian Zingg und Anton Graff im 18. Jahrhundert gezeichnet wurden. Es macht Spaß, die alten Kupferstiche und Zeichnungen mit den Originalaussichten zu vergleichen, bei fast allen Werken wurden Felsen und Berge nach Belieben verschoben oder hinzugemalt, eine ziemliche Schummelei war das in der Romantik. Den Felsen, auf dem Friedrichs Wanderer steht, suchen wir vergebens.
Zurück im Wald stehen wir schon nach ein paar Kilometern vor einem anderen Schwergewicht der deutschen Kulturgeschichte. In schwarzem Marmor blickt Richard Wagner als Gralsritter aus etwa 15 Metern Höhe auf uns herab. Er soll im Elbsandsteingebirge Inspiration für seinen Lohengrin gefunden haben. Dem wunderschönen Präludium des Werks kann man per Knopfdruck am Wegrand lauschen.
Wagner scheint meinen Vater munter gemacht zu haben, und während wir den Grund und die Wagner-Streicher verlassen und hinauf nach Mühlsdorf steigen, bekomme ich einen Abriss der letzten Monate zu hören. Der Dirigent des Gospelchors verlange das Auswendiglernen der Lieder, Spaß mache es aber trotzdem, und wie! Meine Mutter, ebenfalls ein Mensch mit Aktivitätsbedürfnis, gehe fast ein, weil sie sich aufgrund einer Fuß-OP nicht bewegen dürfe.
Ich schnaufe und habe gut zu tun damit, mich und meinen acht-Kilo-Rucksack den Berg hinaufzuwuchten. Mein knapp 60-jähriger Vater hat das Lungenvolumen und den Schritt eines 20-Jährigen und plappert wie ein Wasserfall. Auf der Alten Lohmstraße, die sich zwischen Rapsfeldern und Wiesen mit Wildblumen hindurchschlängelt, bin ich dran mit Erzählen. Mein Vater stellt interessierte Fragen zu meinem Studium, meiner Arbeit, dem Leben in der Großstadt. Wir beschnuppern uns. Bloß keine Politik ansprechen, denke ich, bloß keine Genderdebatte vom Zaun brechen.
Unsere Mittagspause verbringen wir in Wehlen, der Ort ist eigentlich das Etappenziel. Doch nach 14 Kilometern sind wir noch nicht müde. Vor allem wollen wir die Basteibrücke sehen, das knapp 200 Meter über der Elbe thronende Wahrzeichen der Sächsischen Schweiz. Nach dem Essen macht mein Vater am Wegrand Lockerungsübungen. Er lässt sich dabei vornüber hängen und schüttelt seinen ganzen Körper, bis sein Kiefer klappert. Ich schaue unbeteiligt drein und versuche mich nicht wie das 14-jährige Mädchen zu fühlen, das vor Scham fast stirbt, weil seine Eltern vor dem Frühstück ein Morgenlied singen. Obwohl die beste Freundin da ist und man darum gebeten hatte, das Singen ausfallen zu lassen.
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