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Warum Nepal Albtraum und Traum zugleich ist

Sechs Monate war Gisa Wengel für ein Sabbatical in Nepal. Unsere Autorin Anna Wengel hat sie dort am Ende ihrer Nepalzeit besucht und sich von ihrer Mutter zwei Wochen das Land zeigen lassen, in das sie sich so sehr verliebte. Auf TRAVELBOOK erzählt sie von ihren Erfahrungen.


Klappe auf, Ziege an die Seite gequetscht, Backpack daneben, Klappe zu. Trotz Muskelkraft lässt sich der zweite Rucksack nicht mehr neben das verschreckte Tier in den Kofferraum quetschen. Also fliegt er auf das Busdach - und an ihm vorbei. Nur bemerkt von dem Mann, dem er an den Kopf knallt. Unser Zeug fachmännisch vom Busfahrer verstaut, dürfen wir einsteigen. Erster Local-Bus auf dem Weg nach Meghauli, dem kleinen Dorf in Nepals Süden, in dem meine Mutter, Gisa Wengel, sechs Monate ehrenamtlich als Krankenschwester gelebt und gearbeitet hat.


Nach stundenlanger Schunkelfahrt mit riskanten Überholmanövern, scharfen Samosas und frisch produziertem Mageninhalt an der Scheibe kommen wir an. Kreidebleich ist das kotzende Mädchen vor mir in der Sitzreihe, nicht die einzige, der die Busfahrt auf den Magen geschlagen ist.  Ich hatte vorher zwar schon Legenden über Busfahrten in Nepal gehört, sie aber als übertriebene Panikmache abgetan. Es ist keine Panikmache. Wer einen Adrenalinkick will, sollte bei Regenwetter in einen Local Bus in Nepal steigen. Aber Ohrenstöpsel mitnehmen. Denn nicht nur die kurvigen Straßen und die kuschelige Menschenmasse können auf den anfänglichen Abenteurergeist schlagen. Nach ein paar Stunden Vollbeschallung ist meine Freude über die traditionelle nepalesische Musik der blanken Angst vor Ohrenkrebs gewichen.


Dorfleben: Tiger tötet Fischer


Magen und Ohren geht es nach der Busfahrt schnell besser, Ekel und Unwohlsein werden von einer perversen Neugier abgelöst, denn: Ein Tiger streift durch das Dorf und hat mit einem Mann schon sein erstes Opfer gefunden. „Nicht allein durch Meghauli laufen!", werde ich von einem Mitreisenden in dem klapprigen Pick-up gewarnt, der uns in das kleine Dorf im Süden bringt, während meine Mutter sich erkundigt, wer genau von dem Tiger getötet wurde. Es war ein Fischer.


Noch den Gedanken an den vom Tiger getöteten Mann im Kopf, stellt mir Mama schließlich Bishnu vor, ihre Vermieterin, mit der sie Lehmhütte, Brunnen, Feuerstelle und die Liebe für minimalistisches Leben teilt. Die beiden Frauen unterhalten sich mit Händen, Füßen und den wenigen Brocken Nepali, Englisch und Deutsch, die sie sich in den letzten Monaten beigebracht haben - und scheinen ganz genau zu wissen, was die andere meint.


Drei Tage bleiben wir in Meghauli. Den Tiger sehe ich nicht. Dafür aber zwei Krokodile, die in der Nähe der Krankenstation, in der meine Mutter arbeitet, in der Sonne liegen - und schlafen? Näher rangehen will ich dann doch nicht. Und das nicht nur, weil ich die Vorstellung gruselig finde, ohne Betäubung in der Krankenstation behandelt zu werden. Die kleinen Kinder, die mit mir am Flussufer stehen und sich immer näher an die riesigen Echsen heranpirschen, sind große, gefährliche Tiere offenbar gewöhnt. Tiger und Krokodile sind hier übrigens nicht die einzigen. Auch wilde Elefanten und Nashörner soll es hier geben, höre ich und komme mir plötzlich vor wie in einem wahr gewordenen Kindertraum - nur ein bisschen beängstigender vielleicht.


Hippietraum Pokhara und Naturschönheit Annapurna

Alles andere als beängstigend ist unsere nächste Station: Pokhara. Pilgerstätte von Hippies, Yogis und Reisenden, und Ausgangspunkt vieler Trekkingfreunde. Kaum angekommen habe ich mich schon in diesen Ort mit seiner Gemälde-Kulisse aus Phewa-See und Annapurna-Gebirge verliebt, in der Nepalesen und Touris sitzen und reden, sich gegenseitig die Haare flechten, Essen und Joints teilen. Nach dem kunterbunten, lauten Kathmandu, in dem man sein Essen vor den Affen verteidigen muss, und der magenumdrehenden Busfahrt scheint diese Stadt irgendwie in Zeitlupe zu funktionieren. Vollkommen entschleunigt, vielleicht sind die meisten hier aber auch einfach stoned. Lange sitzen wir einfach nur auf einem Kissen in einem Café mit Blick auf den See, beobachten, wie Kühe an uns vorbeitrotten und Menschen sich glücklich mit neonfarbenem Puder beschmeißen. Wir sind am Tag des Holi Festivals in Pokhara angekommen, und die ganze Stadt erstrahlt in pink-blau-orange-gelb-grünem Glanz.


Pokhara ist aber längst nicht nur Tummelplatz für Frieden-predigende Weltenbummler, auch Wanderlustige kommen hierher. Bergauf geht es von Pokhara zu einem der Sightseeing-Hotspots Nepals: das Bergdorf Sarangkot. Schon früh um 5 Uhr tummeln sich auf der Aussichtsplattform Reisende und Locals, um die Sonne Strahl für Strahl über dem Annapurna-Gebirge aufgehen zu sehen und sich von der gewaltigen Skyline beeindrucken zu lassen. Denn beeindruckt sind wohl die meisten von dieser gigantischen, teils knapp über achttausend Meter reichenden Berglandschaft, und ich bin längst nicht die Einzige, in deren Augenwinkel aus lauter Ergriffenheit eine Miniträne glitzert.


Flugzeug-Chaos gehört dazu

Nach drei Wochen im charmanten nepalesischen Chaos kehren wir nach Kathmandu zurück. Abflug. Als meine Mutter schon fast wieder in Deutschland angekommen ist, komme ich eine Stunde vorm Boarding am Tribhuvan International Airport an. Und warte. Die Halle füllt sich mehr und mehr mit Menschen. Keiner geht. Nach drei Stunden dann die Nachricht: Alle Flüge sind verspätet, auch mein Bali-Flug. Der Grund: Die Lichter auf dem Rollfeld sind kaputt. Doof. Nachdem aber schon mein Hinflug total verspätet ankam, weil Kathmandu keinen Platz für das Flugzeug hatte und es für ein paar Stunden in Indien zwischengeparkt werden musste, bin ich gespannt. Ob dieses Problem auch innerhalb von Stunden gelöst werden kann? Kann es nicht. Zwei Stunden später verwandelt sich die Anzeige hinter drei Flügen von „Delayed" in „Cancelled", meiner ist dabei. Gemeinsam mit acht weiteren ausländischen Bali-Reisenden werde ich zu einem halbfertigen Luxus-Hotel in der Nähe gekarrt, streng getrennt von den zahlreichen Nepalesen, die in zwei Busse gequetscht irgendwo anders untergebracht werden. So endet meine Nepalreise wie sie begonnen hat: mit dem unangenehmen Beigeschmack von Zwei-Klassen-Gesellschaft und Flughafen-Chaos, das beweist, dass man in Nepal schon was planen kann. Man kann es aber auch lassen.

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