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Was bleibt uns denn sonst noch?

Ihr Sohn ist ein Vergewaltiger, verurteilt zu einer langen Haftstrafe. Doch die Obermüllers halten zu ihm. Sie sagen: Gute Eltern kümmern sich.


Das Ehepaar Obermüller lebt in einem Dorf in Bayern, rund 2000 Einwohner, ein Metzger, ein Supermarkt, ein Dönerladen, ringsum Wald und Wiesen. Herr Obermüller ist hier geboren und wurde Polizist; Frau Obermüller eröffnete im Ort ihr eigenes Blumengeschäft. Mittlerweile sind sie beide in Rente, er ist 70 und sie 68. Trotzdem stehen sie jeden Morgen früh auf, um Viertel vor drei, und tragen die Zeitungen aus.

Sie wissen, dass einer im Dorf die „Welt“ liest, zwei die „Süddeutsche“, einer die „Zeit“, einer die F.A.Z. Die meisten aber lesen die Regionalnachrichten. Jeder kennt jeden, man grüßt sich beim Vorbeigehen und am Gartenzaun, so wie das nun mal ist.

Manchmal fragen die Nachbarn: Wie geht’s denn dem Sohn? Die alte Frau, die ein paar Häuser weiter wohnt, will ihm auch mal etwas Geld schicken und fragt: Braucht er sonst noch was? Briefmarken, sagten die Eltern dann immer, bis der Sohn die stapelweise bekam. Aber er schreibt ja auch viel, meint die Mutter; 15 Seiten, 20 Seiten, unglaublich lange Briefe. Seine eigene Poststelle könnte er aufmachen, das höre er immer wieder, in der JVA. Seit sechseinhalb Jahren ist der Sohn der Obermüllers inhaftiert.


In der Familie hätten sie immer alles gemeinsam besprochen, wenn sie eine neue Pfanne kaufen wollten oder die Heizung kaputt war. Über alles konnten sie reden, so erzählt es Frau Obermüller; nicht aber über die Gründe für die Hausdurchsuchung, vor sieben Jahren. Der Sohn erzählte nichts. Wie soll man so was auch erzählen, sagt Frau Obermüller. Den eigenen Eltern?


Sie spricht es nicht aus, das Wort: Vergewaltigung.

Die Obermüllers heißen eigentlich anders, die richtigen Namen und ihr Wohnort sind der Redaktion bekannt. Sie wollen nicht, dass ihr Sohn erkannt wird, Details über den Fall werden in diesem Text nicht vorkommen. Die Obermüllers wollen ihre Geschichte erzählen, und das haben sie auch getan, in mehreren Telefonaten und bei einem Besuch in ihrem Zuhause. Es ist die Geschichte von Vater und Mutter, die damit leben, dass ihr Sohn ein verurteilter Vergewaltiger ist und seit Jahren in Haft.


Warum sie erzählen wollen? Ihm ist das sehr wichtig, sie ist zurückhaltender. Vielleicht, weil bei ihm noch etwas anderes durcheinandergeraten ist, sein ganzes Empfinden von Gerechtigkeit: Er hat als Polizist ja mal einen Eid geschworen, auf den bayerischen Staat und dessen Justiz. Er hat Leute festgenommen und gedacht, das sei das Richtige, sie wegzusperren. Heute hadert er mit ebenjener Justiz, die seinen Sohn isoliert, auch von seinen Eltern. Früher wusste Herr Obermüller, was zu tun ist in diesem System, heute fühlt er sich hilflos darin.


An einem Septembertag 2023 sitzt das Ehepaar Obermüller an dem runden Tisch in seinem Wohnzimmer, ein Wasser und ein Weißbier auf der Blümchentischdecke. In diesen Tagen entscheidet sich, ob ihr Sohn nach zwei Dritteln der Haftzeit entlassen wird. Er ist zuversichtlich, die Anwälte hätten ihnen Mut gemacht; sie traut sich nicht, darauf zu hoffen. Nervös sind sie beide.


An jenem Herbsttag vor sieben Jahren war es Herr Obermüller, der die Tür öffnete, und all seine alten Kollegen standen davor. Was macht ihr denn hier? Das fragte er noch. Die Polizeibeamten fragten nach dem Sohn, der mit Freundin und kleinem Kind im selben Haus wohnte, und durchsuchten seine Wohnung. Kurz vor Weihnachten nahmen sie ihn fest.

Die Obermüllers besuchten ihren Sohn in Untersuchungshaft, die Enkeltochter war noch dabei, deren Mutter auch. Über die Tat selbst sprachen sie nicht. Im Laufe der Jahre erfuhren die Eltern immer mehr darüber, was passiert war, in kleinen Schnipseln, durch neue Anwälte, durch einen Rechtswissenschaftler, auch durch den Sohn selbst. Herr Obermüller sagt: „Verstehen kann ich nicht, was er getan hat; nachvollziehen, wie es dazu kam, heute ein bisschen mehr.“ Das erste Mal so richtig über alles reden, sagt Frau Obermüller, das könnten sie wohl erst, wenn er draußen ist.


2017 wurde der Fall verhandelt. Die Obermüllers saßen im Gerichtssaal und sahen, wie ihr Sohn in Handschellen hineingeführt wurde. Die Anklageschrift wurde verlesen, und, so empfand das Frau Obermüller, alles über den Sohn ausgebreitet; all die Leute im Saal, die Presse, die Bekannten, auch Verwandte, die sie gebeten hatten, nicht zu kommen, sahen dabei zu. Als die Opfer sprachen, durften sie und der Rest der Öffentlichkeit nicht zuhören. Die Obermüllers hörten die Anklage und das Urteil; hörten, dass der Sohn wegen mehrerer Fälle schwerer Vergewaltigung und schweren sexuellen Missbrauchs verurteilt wurde, zu einer Haftstrafe von zehn Jahren.


„Das zog einem erst mal den Boden unter den Füßen weg“, sagt Herr Obermüller. „Die Bilder bekommen wir nicht mehr aus dem Kopf“, sagt Frau Obermüller.

Sie hat den Blumenladen direkt danach wieder aufgesperrt. Die Leute gegrüßt, er auch, auf der Straße, beim Metzger, sie haben beide kein Geheimnis daraus gemacht. Wäre ja sowieso nicht gegangen, haben schließlich alle in der Zeitung lesen können: die Berichte über ihren Sohn, den Vergewaltiger.

In der Selbsthilfegruppe für Eltern von Inhaftierten, zu der sie seitdem gehen, wundern sich die anderen Eltern oft darüber; diejenigen, die sich einschließen zu Hause, nicht mehr rauswollen, irgendwann wegziehen aus der alten Nachbarschaft. Viele Eltern fühlen sich hilflos und überfordert, nicht wenige verschweigen die Haft selbst dem privaten Umfeld. Viele schämen sich, viele quält der Gedanke: Inwieweit ist die Schuld meines Kindes auch meine?

Bei den Obermüllers aber kam mal eine Nachbarin vorbei, mit einem Zettel voller Unterschriften: Es gehe das Gerücht um, die beiden wollten wegziehen. Das Dorf sei damit nicht einverstanden.

Wegziehen, mit dem Gedanken hatten die beiden anfangs schon gespielt. Als Herr Obermüller dachte, irgendwer schriebe bestimmt groß „Drecksau“ auf ihre Fassade. Passiert ist das nicht, und die Obermüllers sind geblieben. Nach dem Urteil zogen die Enkelin und ihre Mutter aus, der Kontakt brach ab.


Herr Obermüller trägt gern mal T-Shirts mit Aufdruck, darauf steht zum Beispiel: „Ich muss gar nix, nur nach ­Dänemark.“ In Dänemark haben sich die Obermüllers verliebt, in das Meer und den Wind. Jetzt fahren sie oft in den Bayerischen Wald, weil es von dort nicht so weit ist zur JVA. Keinen einzigen Besuchstermin haben sie verpasst, und wenn sie doch mal nicht konnten, schickten sie Bekannte oder Verwandte, damit der Sohn jemanden zum Reden hatte.

Dass Straftäter ins Gefängnis müssen, findet Herr Obermüller nach wie vor richtig. Frau Obermüller aber findet, Gefängnisse funktionierten nicht. Es brauchte bessere Lösungen; solche, die Menschen nicht isolierten, sondern sich darauf konzentrierten, wie das Leben weitergehen kann.

In Deutschland haben Inhaftierte ein Recht auf Besuch, weil auch der Staat der Meinung ist, dass sie den Kontakt zu ihrem Leben außerhalb nicht verlieren sollten. Für die Resozialisierung ist das essenziell. Wie viel Besuch ein Häftling bekommt, ist je nach Bundesland und Haftanstalt unterschiedlich. Die Obermüllers haben eine Stunde pro Woche.


Einmal wurde Herr Obermüller richtig wütend, im Besuchsraum der JVA. Der Sohn erzählte und erzählte, wo sie anrufen sollten, was sie erledigen könnten. Die Eltern saßen ihm gegenüber, leere Hände, nichts zum Schreiben, weil man ja nichts mitnehmen darf in ein Gefängnis. Also fragte Herr Obermüller nach einem Blatt Papier und einem Stift. Er schrieb alles mit, nur nichts vergessen. Er gab den Stift wieder ab, doch der Beamte verlangte auch das Papier. Solle der Sohn doch einen Brief schreiben. Da platzte all die Verzweiflung aus Herrn Obermüller heraus. In den Mühlen der Justiz, die er einst mit antrieb, fühlt er sich heute wie ein kleines Korn; eines, das einfach mitgerieben wird, bis nichts mehr von ihm übrig bleibt.

Die Obermüllers sind weder Täter noch Opfer. Dennoch bestimmen Verbrechen und Strafe auch ihr Leben. Plötzlich ist es wieder, als hätten sie, die Rentner, ein Kind, dessen Leben nur an ihnen hängt: Der Sohn der Obermüllers kann Dinge, die ein Leben außerhalb der Haft betreffen, nicht selbständig organisieren, er kann keine Mails schreiben, vier Jahre lang konnte er nicht mal telefonieren. Sie, die sich als „Internet-Laien“ bezeichnen, machen das alles für ihn. Das setzt sie jeden Tag wieder unter Druck, aber gute Eltern kümmern sich um ihr Kind, so sehen sie das.


An diesem Samstag im September klingelt der Laptop, pünktlich um halb zwei. Die Obermüllers setzen sich vor den Bildschirm, der Sohn erscheint, der Kopf rasiert, der Hintergrund weiß und verpixelt. Er sieht die Eltern auf ihren Holzstühlen, sieht, wie die Sonne von hinten aus dem Garten durch das Fenster scheint und alles in ein warmes Licht taucht. Sie besprechen Anrufe und Termine. Der Sohn fragt nach seinen Unterlagen für die Landtagswahl, der Vater nimmt den Brief vom Schreibtisch, notiert sich etwas im Kalender.

Der Sohn sagt, wie unfair es sei, dass auch sie bestraft würden für seine Tat. Herr Obermüller erwidert: „Unfair, was heißt das schon? Was zusammengehört, das gehört zusammen.“

Dankbar sei er, sagt der Sohn, dass er seine Eltern habe; dass er wisse, wo er nach der Haft hingehen kann. Seine Wohnung gibt es noch, die Versicherungen führen die Eltern weiter, auch die Mailkontakte; alles, was von seinem Leben geblieben ist, halten sie dort draußen aufrecht.

Zweimal im Monat fahren sie zum Sohn, zweimal im Monat sehen sie sich über Skype. Manchmal kommt auch die Oma vorbei, 92 Jahre alt, schleicht mit ihrem Rollator die Straße hinunter, guckt ins Wohnzimmer, fragt: Heute ist doch Skypen, oder?

Wenn die Obermüllers mit ihrem Sohn reden, denken sie dann manchmal an die Tat? An die Opfer?


Die Obermüllers sagen, in dieser einen Stunde, wenn sie miteinander sprechen, sei gar keine Zeit, der Kopf so voll. Dann denken sie nur daran, was es zu erledigen gibt. Nach der Verurteilung habe er sie um Vergebung gebeten, und sie hätten ihm vergeben.

Wer aber kann, wenn überhaupt, einem Vergewaltiger vergeben, wenn nicht die Opfer? Vielleicht müssen Eltern, um in einem solchen Fall Eltern bleiben zu können, die Details der Tat und die Menschen, deren Leben durch diese gezeichnet ist, immer wieder verdrängen. Die Obermüllers jedenfalls reden viel über die guten Seiten des Sohnes, dass er hilfsbereit sei und sich an Ungerechtigkeiten störe.

Wenn Herr Obermüller nicht mehr weiß, was er sagen soll, dann macht er auch mal Scherze, so was wie: Lass dir ruhig Zeit in der Haft, mein Sohn, die Ferienwohnung läuft so gut. Ganz vermieten wollten sie die Wohnung vom Sohn nicht, immer nur für ein paar Tage.

Die Gäste jedenfalls sind zufrieden, 9,4 Sterne, lauter positive Bewertungen:

„Top ausgestattet.“

„Sehr freundliche Gastgeber.“

„Bietet ausreichend Platz für eine Familie.“


In dieser Wohnung über den Eltern lebte der Sohn, in all den Jahren, in denen er seine Taten beging. Es sieht alles noch so aus, wie er es eingerichtet hat, das Zimmer mit dem Doppelbett für ihn und seine Freundin, das mit dem Stockbett für die Tochter.

Das Kind dürfen die Großeltern nicht mehr sehen.

Bald hat die Enkelin Geburtstag, sie wird acht. Die Obermüllers kopieren die Briefe, die ihr Sohn an seine Tochter schreibt, und schicken das Original an die Mutter. Jeden Monat einen. Die Obermüllers wissen nicht, ob die Enkelin diese Briefe bekommt. Eine Antwort kam nie, die Mutter verweigert den Kontakt.

Im Flur hängt ein Foto der Enkelin, im Wohnzimmer noch weitere. Wenn sie das Kind jetzt auf der Straße sähen, sie würden es nicht erkennen. „Die Mutter baut einen Schutzschirm um sie auf, das ist ganz klar, das verstehen wir“, sagt Herr Obermüller. Die beiden finden nur: Ein Schutzschirm, das waren doch auch immer sie. Wenn sie so was sagen, beim Jugendamt zum Beispiel, dann wolle das niemand hören. „Wenn jemand ‚Vergewaltigung‘ hört, gehen die Jalousien sofort runter“, sagt Herr Obermüller. Irgendeine Art von Vergehen gegenüber dem Kind sei nie Teil der Anklage gewesen; in den Briefen, die sie vom Jugendamt oder den Anwälten der Mutter erhalten, erkläre man ihnen, die Frau sei traumatisiert, der Kontakt deshalb nicht möglich. Dass sie ihre Enkelin verloren haben, sei das Schlimmste gewesen, das sagen sie beide.


Manchmal lagen die Obermüllers im Bett und weinten die ganze Nacht. „Man kann sich einfach nur in den Arm nehmen, mehr geht dann nicht“, sagt sie. Was hat all das mit ihrer Beziehung gemacht, die letzten sieben Jahre? Sie sagt: „Es hat uns eigentlich mehr zusammengeschweißt.“ Er sagt: „Allein hätte das keiner von uns geschafft.“

Ihre Altersvorsorge ist so gut wie aufgebraucht, für Anwaltskosten, irgendwelche Angebote und Beratungen, alles, was sie nun mal machen konnten. Weihnachten, das war für sie immer ein schönes Fest. „Nun sitzen wir im Wohnzimmer, schauen den Christbaum an und sagen: Na ja, das haben wir uns auch anders vorgestellt“, sagt Herr Obermüller. Die Familie ihres Sohnes ist an seiner Tat zerbrochen; die zwischen ihnen und ihrem Sohn, die dürfe jetzt nicht auch noch zerbrechen an der Haft. Was bleibt denn sonst noch?

Sind sie manchmal einfach nur wütend auf den Sohn?

Er sagt: „Na ja, manchmal bin ich das schon. Wir müssen das mit austragen.“

Sie sagt: „Mir geht es nicht so, da unterscheiden wir uns. Wütend war ich nie auf unser Kind. Ich weiß nicht, warum, aber so ist es halt.“

Er geht jeden Monat zur Therapie, sie spricht mit einer Diakonisse. Der Glaube habe ihr viel geholfen, sagt Frau Obermüller, gegen das Gefühl, sie sei ganz allein. Er sei etwas dünnhäutiger geworden, die Gespräche mit dem Sohn fielen ihm oft schwerer als ihr. Beide mussten sie erst mal lernen, über all das zu reden.


Die schlimmsten Fragen kommen dann, wenn sie ganz allein mit sich sind.

Herr Obermüller sagt: „Irgendwann gehen die Gedanken los. Hab ich was verkehrt gemacht?“

„Ja, das kommt“, sagt seine Frau.

Er: „Bin ich daran schuld? Haben wir etwas falsch gemacht, in der ­Erziehung, oder überhaupt? Zu wenig gesprochen? Ihn zu wenig be­achtet?“

Sie: „Er hat uns ja selbst geschrieben, so war es nicht.“

Er: „Aber ob das wahr ist?“

Sie: „Ich weiß es nicht.“

Macht eine Pause. „Meinst, es ist nicht wahr?“

Er: „So viel ist ungewiss . . .“

Ein paar Tage später hören die Obermüllers, dass ihr Sohn nicht frühzeitig entlassen wird. Noch mal vier Jahre Haft für ihn – und für die Obermüllers. Sie wollen Widerspruch einlegen, wieder Anwaltskosten, wieder Mails, Telefonate. Aber jetzt brauchen sie erst mal eine Auszeit, ein paar Tage fahren sie in den Bayerischen Wald. Klar, sagt Herr Obermüller, auf dem Weg dorthin besuchen sie ihren Sohn.

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