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Sie weinte, er stand neben ihr im Zug, still und ruhig

Ein Mehrfamilienhaus irgendwo in Stuttgart, Wände in abgenutztem Pastellgrün, kein Aufzug, nur eine schmale Treppe. Von ganz oben hallt durch das Treppenhaus - ja, was eigentlich? Eine blecherne Lautsprecherstimme, abgehackte deutsche Sätze?

Dort oben, im Türrahmen der Dachgeschosswohnung, wartet Borys Sabarko. Gekleidet wie ein ergrauter Hipster, lockere schwarze Hose, Brille mit dickem Gestell und dunkelgrauer Rollkragenpulli. In der Hand hält er ein Smartphone, aus dem noch immer diese Stimme dröhnt, die, mal auf Deutsch, mal auf Russisch, in monotoner Eindringlichkeit einzelne Vokabeln wiederholt und anscheinend nicht so einfach abzuschalten ist. Sabarko lacht, steckt das brabbelnde Handy ein und führt in die Räume, in denen er gerade wohnt. Ein Paar Hausschuhe?


Borys Sabarko, 86, ist Vorsitzender der Vereinigung ehemaliger jüdischer Häftlinge der Ghettos und Konzentrationslager in der Ukraine. Vor allem aber ist er Sammler ihrer Erinnerungen: Rund tausend Berichte ukrainischer Überlebender des Holocausts hat er protokolliert, rund 600 bereits veröffentlicht.

Sabarko spricht fließend Deutsch, nur manchmal stoppt er mitten im Satz, entschuldigt sich für die Suche nach dem richtigen Wort. Mag sein, seine Fehler sind nur Details: "die Krieg oder der Krieg?" Aber Präzision ist ihm wichtig. Denn wer wollte ihm, dem Historiker, schon vormachen, dass nicht die Verwendung eines einzelnen Begriffs Geschichte verändern könnte? Erst recht in diesen Tagen, die ihm äußerst paradox erscheinen: "Damals hat uns die sowjetische Armee befreit, von den Nationalsozialisten unter Hitler." Und heute sind es russische Soldaten, die in seiner Nachbarschaft auf brutalste Weise Zivilisten töten – und diese "Nationalsozialisten" nennen. 


In dieser paradoxen Welt frischt Borys Sabarko also sein Deutsch aus Studienzeiten wieder auf, mit der Stimme aus dem Smartphone.

Sein Weg hierher begann an einem Morgen in Kiew, vor ungefähr sechs Wochen. Er wurde zu einer Fahrt in seine eigene Vergangenheit – und brachte zwei Menschen näher zusammen: ihn, den Großvater, geboren 1935, Kind im Ghetto Scharhorod. Und seine Enkelin Ilona, die Krieg und Verfolgung bis zum 24.  Februar nur aus Erzählungen kannte.


An jenem Morgen stand Ilona plötzlich vor seiner Wohnungstür, zwei Zugtickets in der Hand: Kiew bis Lwiw, 2. März 2022. Sie und ihre Mutter hätten doch gestern Abend angerufen, warum habe er seinen Koffer noch nicht gepackt? Nun, die Antwort war ziemlich einfach: Er wollte nicht.


Ilona, 17 Jahre alt, hatte schon vor Tagen ihren Rucksack gepackt und alles eingesteckt, was ihr sinnvoll erschien: ihren Pass, ihr Zeichentablet und das bisschen an Schmuck und Geld, das sie besaß. Sieben Nächte hatte sie nicht geschlafen. In der ersten hatte sie mal wieder zu lange Computer gespielt. Danach hielten der Bombenalarm und die Nachrichten sie wach. Am fünften Abend des Krieges gaben ihre Eltern endlich nach: Gut, wenn sie sofort gehen möchte, dann mit ihrem Großvater. Doch auch er wollte bleiben. Sich um seine Organisation kümmern, weitere Augenzeugenberichte sammeln, Ansprechpartner sein für Menschen in Not. War sie die Einzige in dieser Familie, die den Krieg sah? 


Diese Frage stellt sich Ilona noch Wochen später, in einem ruhigen Café in Stuttgart, direkt nach ihrem Unterricht in Kunst und Deutsch. Sie spricht schnelles Englisch, und fehlt ihr mal ein Wort, tippt sie es einfach in ihre Übersetzungs-App. Dann klackern ihre langen, weißen Fingernägel kurz über das Display. Im Russischen kenne sie ja all die Wörter, mit denen sich die gesamte Palette der Gefühle ausdrücken ließe, im Englischen, vermutet sie, klinge sie bestimmt viel härter. Auch sie schätzt die Feinheiten der Sprache, studiert seit einem halben Jahr an der Fakultät für deutsche Philologie in Kiew. 

Ihre Haare trägt Ilona in leuchtendem Rot, ihre Augen schwarz umrandet. Mit dem betont lässigen Sarkasmus einer Teenagerin erzählt sie von Momenten, in denen wohl Menschen jedes Alters nach rhetorischen Schutzmechanismen suchen. Über ihren Großvater sagt sie: "Er ist alt, aber witzig. Und er ist unberechenbar, ganz besonders in unberechenbaren Situationen."


An jenem Morgen in Kiew packte er doch noch seinen Koffer, es blieben ihm dafür nur wenige Minuten. Er nahm mit: einen Stapel Kleidung und ein paar Bücher, darunter seine eigenen und die Prosasammlung einer russisch-israelischen Schriftstellerin. Und eine Liste seiner Organisation, sechs Seiten, 89 Namen und Telefonnummern aus der Ukraine, mit einer roten Heftklammer zusammengehalten. Manche der Namen sind mit dunklem Filzstift umrandet. Die anderen sind noch am Leben, mit ihnen wird er immer wieder telefonieren. Auf dem Weg zur Grenze, in Budapest, später in Deutschland.

"Er hat sich für mich entschieden", sagt Ilona. Ihre Mutter habe ihm erklärt, er müsse seine Enkelin retten. Dazu hatte Ilona an jenem Morgen erst mal nichts gesagt, doch gefragt hatte sie sich schon: War es nicht sie,die ihn rettete? Später am Bahnsteig, als sie hin und her schwappte in dieser wabernden Masse aus Jungen und Alten, dachte sie nur noch, wie zynisch es doch wäre, würde sie nun hier sterben, auf diesem Bahnhof zerquetscht zwischen all den Menschen, die alle dasselbe wollten wie sie: "einfach leben".


Irgendwie schafften sie es dann doch in einen Zug. Die Menschen standen in den Gängen, dicht an dicht, während mehr als zehn Stunden Fahrt. Zwischen ihnen ihr Großvater. "Vor dem Krieg habe ich nie darüber nachgedacht, wie alt er ist", sagt Ilona. Er konnte Fahrrad fahren, Treppen laufen, schwimmen gehen. Und nun waren sie gemeinsam in diesem Zug, ihr eigener Rücken tat so verdammt weh, sie konnte ihre Beine nicht mehr spüren, sie sah das Virus – das es ja auch noch gab – nur so durch die Luft fliegen. Und er, er harrte aus, stand still und ruhig, bis sie endlich einen Sitzplatz für ihn fand. Harrte weiter aus, als sie ankamen in Lwiw und dort warteten, eine Stunde, zwei Stunden, fünf, die ganze Nacht. Sie warteten auf den Anschlusszug, doch jeder fiel aus. 

Wieder spürte sie ihre Beine nicht mehr, diesmal vor Kälte. Sie schrie, sie weinte. Und ihr Großvater? Stand in der Kälte, nach Stunden im überfüllten Zug, und sagte nur, sie müssten einfach warten. "Er zeigt seine Emotionen nicht. Ob es sein Charakter ist oder weil er im Zweiten Weltkrieg aufgewachsen ist, ich weiß es nicht", sagt sie. 


In Stuttgart setzt Borys Sabarko nun Teewasser auf, doch er wird sich erst vierzig Minuten später wieder daran erinnern und es noch einmal heiß machen müssen. Er hat viel zu erzählen und immer das Gefühl: Er ist zu spät dran. Treppen stolpert er eher hinab, als dass er sie geht. Nach oben sei es gerade etwas schwieriger, da merke er noch die Corona-Infektion, die er sich auf der Flucht eingefangen habe.

Auf dem Schreibtisch liegen drei seiner Bücher, zwei in Russisch und eines auf Deutsch: Nur wir haben überlebt, von 2004. Vor drei Jahren erschien in deutscher Übersetzung ein weiteres Buch: Leben und Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine. Allein dieses hat über 11.000 Seiten, weshalb die Süddeutsche Zeitung es mit Lanzmanns epochaler Doku Shoah verglich. Im Oktober 2009 erhielt Sabarko für seine Arbeit das Bundesverdienstkreuz am Bande. Auf seinem Schreibtisch in Kiew, erzählt er, direkt neben seinem Laptop, liege das Manuskript für sein nächstes Buch. Das konnte er in der Eile nicht mitnehmen.

Er selbst sagt: "Ich schäme mich, dass ich mit dieser Arbeit so spät angefangen habe." Was – das muss vielleicht einmal so deutlich gesagt werden – nicht wirklich an ihm liegt, sondern an den antisemitischen Strukturen in der Sowjetunion der Nachkriegszeit. Die Ukraine war vor dem Zweiten Weltkrieg das Land mit den meisten jüdischen Einwohnern in Europa, zwischen 1941 und 1945 wurden 1,5 Millionen von ihnen ermordet. Allein in Babi Jar, einer Schlucht nahe Kiew, erschoss die deutsche SS am 29. und 30. September 1941 mehr als 33.000 Juden. Doch die geplante Vernichtung jüdischen Lebens in Ghettos und Konzentrationslagern wurde in der Sowjetunion nicht als Holocaust bezeichnet oder erforscht. "Wer ein Ghetto, ein KZ überlebte, verschwieg das – wie sollte er sonst etwas werden? Alle hätten gedacht, er wäre vielleicht ein Kollaborateur gewesen", sagt Sabarko. Die Aufarbeitung des Holocausts in der Ukraine begann erst mit der Unabhängigkeit des Landes 1991 und durch die wissenschaftliche Arbeit Sabarkos.


Seine eigenen Erinnerungen hat er allerdings bis heute nicht aufgeschrieben. 

Warum? "Bei mir war es nicht so schlimm." Wenn er von seiner Kindheit spricht, erzählt er vor allem von guten Ukrainern in seiner Umgebung, von dem Namen Samborski, der in einem Bericht über ihn unbedingt Erwähnung finden müsse: Die Samborskis waren Freunde seiner Familie, und weil sie ihnen damals zur Flucht aus dem Ghetto verhalfen, konnten er, seine Mutter, sein Großvater und sein Bruder überleben. In der Zwischenzeit war sein Vater an der Front gestorben, sein Onkel bei der Befreiung von Budapest. "Überleben ist Glück und Last zugleich", sagt Sabarko. Dieses Glück und diese Last trägt er sein Leben lang mit sich, und nun trug er sie noch einmal von Kiew bis nach Stuttgart. 

Zehn Tage nach Großvater und Enkelin ist auch die Tochter geflohen. Jetzt leben sie zu dritt in einer winzigen Wohnung, die ihnen Bekannte zur Verfügung stellen. Sabarko schläft in einem Raum, Tochter und Enkelin in einem anderen. In ein paar Tagen können sie umziehen, welch ein Glück. Obwohl – ein bisschen erinnert ihn diese Wohnung auch an eine schöne, längst vergangene Zeit. Als seine Frau und er noch studierten, in Czernowitz, und nur ein Zimmer für ihre kleine Familie hatten. 


"Meine Frau war eine brillante Chirurgin", sagt Sabarko. Er selbst studierte in Bonn und Israel, promovierte 1971 am Institut für Geschichte in Kiew, arbeitete dort bis 2002 am Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen der Ukraine. Überall sammelte er Wissen, kehrte aber immer wieder nach Hause zurück. 


Seine Frau ist vor knapp 18 Jahren gestorben, sieben Monate später wurde Ilona geboren.

Und die sagt heute, 1542 Kilometer von ihrer Heimatstadt entfernt, dass sie nun verstehe, was Familie für ihren Großvater bedeute. Rollt mit den Augen, gespielt genervt: Warum habe es dafür erst einen Krieg geben müssen? "Wenn ich mich entscheiden müsste, ob ich mit meiner Familie esse oder etwas anderes mache, jetzt würde ich immer sie wählen", sagt sie. Bei ihrem Großvater sei es ein Leben lang so gewesen.

Es ist schon spät in der Stuttgarter Wohnung, da beschreibt Sabarko plötzlich doch die Bilder, die er auf der Flucht vor Augen hatte:

"Ich dachte an Menschen, die nebeneinanderstehen, ohne frische Luft, ohne Toilette, ohne Wasser, ohne Essen, tagelang. Die sich schämen, weil sie so schmutzig sind. Sie kamen aus kultivierten europäischen Städten, aus schönen Wohnungen. In diesen Zügen fuhren sie vom Leben in den Tod. Und ich, in meinem Zug, ich fuhr vom Tod ins Leben." 


Im Zug telefonierte er mit zwei engen Freunden aus Deutschland, auch ihnen erzählte er von diesen Erinnerungen. Die Menschen darin, damit meint er die Tausenden Juden aus Bessarabien und der Bukowina, die 1941 in das Ghetto Scharhorod deportiert wurden. Der sechsjährige Borys Sabarko sah, wie sie ankamen; und er sah, wie viele von ihnen in den Jahren darauf starben, an Hunger, Krankheit oder Verzweiflung.

Seiner Enkelin hat Sabarko von alldem nichts erzählt, für sie stand er nur still im Zug, still am Bahnhof. Er weiß, wie schlimm all das für sie sein muss. Vieles ist in diesen Tagen anders als in seiner Kindheit, und doch, sagt er: "Krieg ist Krieg."

Sie werde nun jedenfalls alle seine Bücher lesen, sagt Ilona. "Früher hätte ich vermutlich einfach geweint über das Schicksal fremder Menschen. Aber jetzt ist es anders, etwas verbindet uns."


Eigentlich wollte sie ja ins Ausland ziehen, raus aus Kiew, vielleicht auch mal in Deutschland studieren. Jetzt ist Ilona in Deutschland und möchte nur zurück. Sie weiß nicht, was das ist ( "eine neue Art von Patriotismus vielleicht?"), doch plötzlich erscheint ihr die Ukraine wie das lebenswerteste Land dieser Welt.

Ein Tag später, Borys Sabarko hat gerade der Lokalzeitung ein Interview gegeben, zwei Stunden über den Holocaust in der Ukraine gesprochen und doch längst nicht alles erzählt. 


Sabarko tritt hinaus in den Regen und öffnet schwungvoll seinen Schirm. Wie hält er das aus: immer wieder über das Grauen reden, immer wieder an das Leid erinnert werden? "Mein Leben lang habe ich mich gefragt, warum ich überlebt habe und nicht ein anderes Kind", sagt er. Deswegen habe er all die Erinnerungen gesammelt, all die Bücher geschrieben. Und deswegen werde er jetzt erst recht nicht damit aufhören.


Vor ihm liegt nun die vielleicht einzige ansehnliche Straße in der Umgebung, er geht sie zum ersten Mal entlang. "Wie schön!", ruft Sabarko, lüpft in ehrlicher Begeisterung seinen Schirm und zeigt auf die Kirschbäume am Straßenrand. Vor ein paar Tagen müssen sie in voller Blüte gestanden haben. Nun hängen von ihren Ästen ein paar verbliebene rosa Blätter, die der Regen der vergangenen Stunden nicht herunterreißen konnte.


Das menschliche Gedächtnis, schrieb Borys Sabarko in einem seiner Bücher, sei ein höchst unvollkommenes Instrument. Ja, es behält nicht immer das, was wichtig wäre. Doch gerade deshalb sind die Erinnerungen der Menschen mehr als nur Historie. Sie zeigten die "Kompliziertheit der Beziehungen zwischen Geschichte und Gegenwart".

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