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Igor Pigrich zeigt ihnen die Welt

Die Bustour nach kostet in Igor Pigrichs Reisebüro 59 Euro, und im Grunde ist sie auch eine Tour durch sein Leben. Was weniger an Amsterdam liegt, eher am Reiseleiter Pigrich selbst, dem, einmal in Amsterdam angekommen, an jeder Ecke eine Geschichte aus seiner Vergangenheit einfällt, die er dann auch gleich zum Besten geben muss.

Pigrich steht also vor dem Rembrandthaus, wie immer ganz in Gelb: gelbe Kappe, gelbe Daunenjacke, gelber Schirm, in der Hand eine Plastik-Sonnenblume. Und wie er da so steht, erinnert er sich, dass er zu Hause in Hannover vor 21 Jahren jeden seiner künftigen Nachbarn um schriftliche Erlaubnis bitten musste, bevor er in seine Wohnung einziehen durfte. Bis heute spekuliert er, warum: Weil in dem Haus vor ihm kein Ausländer lebte? Weil seine Freundin schwanger war?

Vor der Nationaloper wiederum fällt ihm ein, dass er hier mal einen ehemaligen Schüler aus Moskau getroffen hat. Der war nun Stripteasetänzer und lud ihn ein zu seiner Show. Pigrich berichtet vom begeisterten Publikum im Rotlichtviertel, von Geldscheinen in Boxershorts und dem verschwitzten Gesicht des Schülers, der sagte, nun habe er seinem alten Lehrer aus der Sowjetunion gezeigt, dass aus ihm noch was geworden sei.

Es ist eine anekdotenreiche Fahrt im heute nicht ganz ausverkauften Reisebus des ehemaligen Moskauer Geschichtslehrer Igor Pigrich, der 1989 aus der Sowjetunion in den Westen aufbrach, um schließlich in Hannover sein kleines Reiseimperium aufzubauen.

Vor Frens Haringhandel empfiehlt Pigrich seiner Reisegruppe den Hering im Brot, der ihn, natürlich, an eine osteuropäische Spezialität erinnert. Der Hering schmecke fast wie Salo, ukrainischer Schweinespeck, den auch die russische Küche liebt. Die Gruppe stellt sich freudig tuschelnd an; den Speck kennen sie alle, die russischsprachigen Deutschen und die ukrainischen Flüchtlinge, die Pigrich, mittlerweile auch schon 63 Jahre alt, heute auf einer Neun-Stunden-Tour durch Amsterdam scheucht.

Um 7.19 Uhr ist Pigrich in den Bus gestiegen, ganz schön genervt, weil ihn der Anruf eines Fahrgasts geweckt hatte. Jedes Mal passiere das, sagt Pigrich, irgendwer habe immer noch eine Frage, wenigstens verschlafen habe er so noch nie, seit dreißig Jahren nicht. Er wohnt in der Nähe seines Reisebüros, der kurze Weg zur Arbeit ist ihm wichtig. Hat er auch zu seiner Freundin gesagt, als sie sich vor 22 Jahren beim Tanzen kennenlernten: Die Arbeit bleibe seine Nummer eins. Nun arbeiten sie gemeinsam bei "CliP Reisen", beantworten Anrufe, füllen Excel-Tabellen aus, planen russischsprachige Busreisen durch .

In den Tagen vor der Fahrt saß Pigrich an der Statistik für dieses Jahr. Sie erinnere ihn auf eine seltsame Art an die Jahre 1994/95, sagt er. Vierzig von sechzig gingen bisher nach Paris oder nach Amsterdam. Das sind die günstigsten Touren, Europa-Quickies: Disneyland, Eiffelturm, Madame Tussauds. Schnell ein Foto und wieder zurück. Pigrich kann das alles eigentlich gar nicht mehr sehen.

Seine Abneigung hat weniger mit Amsterdam oder Paris zu tun, sondern vor allem mit dem Gefühl, als sei er selbst zurück auf Los gefallen. Diese Reisen erinnern ihn an die Neunziger, als er Flyer in den Wohnheimen russischer Spätaussiedler verteilte und begann, die Sehnsüchte ehemaliger Sowjetbürger nach dem Westen zu stillen.

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