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Früher war die Kindheit geiler

©Denis Moskvinov / Getty Images


Von Ann-Christin Baßin

Wenn gestandene Erwachsene das Beste an ihrer Kindheit benennen sollen, kommt ganz schnell: Freiheit. Ihre Kinder werden das nicht behaupten können. Wie konnten nur aus den einstigen Rabauken solche Schisser-Eltern werden?


Bis zum Dunkelwerden draußen herumstromern, auf hohe Bäume klettern oder am Deich heimlich Moped fahren - vor 30 Jahren war das problemlos möglich. Zur Kindheit gehörten einfach kleine Abenteuer, und unsere Eltern ließen uns gewähren. Das sieht heute ganz anders aus. Sogenannte Helikoptereltern fungieren als Spaßbremsen, weil sie nahezu jeden Schritt ihrer Kinder überwachen wollen. Woher kommt diese Über-Fürsorge, und was macht das mit dem Nachwuchs?

Schnell mal eben zu den Nachbarn rüberflitzen, die 150 Meter entfernt auf der anderen Straßenseite wohnen - undenkbar für den sechsjährigen Luca. Das kommt gar nicht in Frage! Nur in Muttis Begleitung darf er die ruhige Wohnstraße überqueren, um seinen Freund zu besuchen. Mutters eiserner Griff gibt die kleine Hand erst auf der Fußmatte der Nachbarn wieder frei. Natürlich holt sie ihren Sohn später auch wieder ab, damit nur ja nichts passiert!

Ponyreiten in der Tiefgarage

Kindergeburtstag sieht heute bei gut und besser situierten Familien so aus: Ponyreiten in der Tiefgarage in Hamburg-Eppendorf, an den Porsches und Jaguars vorbei. Bei einem anderen Geburtstag gibt's eine dreistöckige Hochzeitstorte mit weißem Fondant - für eine Zwölfjährige und ihre Gäste. Anschließend kommt ein Profi-Schauspieler, um die Kleinen zu bespaßen. Schließlich muss man dem Nachwuchs ja was bieten, und für den ist nur das Beste gut genug. Eltern und ihr Heiligtum Kind. Heute müssen Kinder in der Kita schon Englisch lernen, dazu kommt musikalische Früherziehung, später dann Klavierunterricht, Ballett oder Tennis. Die Kids werden zu Global Playern herangezüchtet. Viele haben einen Terminkalender, der dem eines erfolgreichen Managers in nichts nachsteht.

Wohl kaum ein Comedian, der sich nicht dem Thema Drohneneltern und ihren ach so begabten Kindern widmet. Die Leute im Publikum lachen sich schlapp, dabei müsste ihnen das Lachen im Halse steckenbleiben. Schließlich kennt fast jeder solche Beispiele. Eltern stehen heute stark unter Druck. Zeitgeist bedeutet für die meisten, mithalten zu müssen: das neueste Handy zu haben, die tollsten Urlaube zu machen - auch die beste Mutter zu sein. Denn vor allem Mütter wollen perfekt sein.

Früher selbst ein Haudrauf, und heute Schiss ohne Ende

Eltern haben übergroße Angst um ihre Kinder, deshalb schränken sie deren Freiraum ein. Über 70 Prozent der Mütter und Väter glauben, dass die Welt für Kinder unsicherer geworden ist und wollen daher jederzeit wissen, wo sich ihr Nachwuchs gerade aufhält. Ausgerechnet Eltern, die sich mit ihren früheren Abenteuern brüsten. Christine Gerdes (48): „Früher bin ich abends oft zur Dorfdisco in die zwölf Kilometer entfernte Kreisstadt getrampt. Aber so was kann man heute ja nicht mehr machen. Bei dem, was alles passiert!" Und Stefan Schneider (50) aus Hamburg berichtet nicht ohne stolz: „Als Teenager bin ich mal mit dem Surfbrett raus, Mastfußbruch - mitten auf der Nordsee, weit hinter der Fahrrinne. Als der Seenotretter mich abschleppte, waren meine Lippen dunkelblau und ich total unterkühlt."

Früher selbst ein Haudrauf, und heute Schiss ohne Ende. Wie kann das sein? Passiert wirklich so viel? Nein, ganz im Gegenteil: In unserem Land leben Kinder so sicher wie nie. In den 50er Jahren starben auf deutschen Straßen jährlich über 1000 Kinder, in den 90er Jahren knapp unter 500 und 2016 nur noch 66. Grotesk: Eltern, die ihr Kind mit dem Auto zur Schule bringen, sorgen für steigende Unfallstatistiken. In den USA werden von Elterntaxis mehr als doppelt so viele Kinder überfahren wie von anderen Verkehrsteilnehmern. Auch in Deutschland verunglücken mehr Schüler, die als Beifahrer unterwegs sind, als zu Fuß. Die tödlichen Unfälle von Kindern und Jugendlichen haben sich in den letzten zehn Jahren nahezu halbiert.

Auch die Kriminalstatistik zeigt, dass 2017 etwa sieben Prozent weniger Heranwachsende Opfer von Straftaten geworden sind als noch vor acht Jahren. Sexueller Missbrauch ist in den letzten 50 Jahren um ca. 50 Prozent zurückgegangen. Und während es in den 70er Jahren jährlich noch bis zu zwölf Sexualmorde an Kindern gab, sind es heute zwei bis drei. Schlimm genug, natürlich. Aber diese Zahlen sollten uns vor Augen führen, dass die reale Gefahr eher ab- als zugenommen hat. Und dennoch fürchten Eltern trotz Matratze mit Atemüberwachung, Babyphone, Kindersitzen, Sicherheitssteckdosen, Treppengitter, Schüler-Handys und vielem mehr um die Sicherheit ihres Nachwuchses.

Früher war längst nicht alles besser

Die Kriminologin Prof. Dr. Rita Haverkamp von der Uni Tübingen antwortet: „Je mehr Sicherheit ich habe, desto sensibler werde ich." Will heißen: Wenn Kriminalität so weit weg vom Alltag ist, reagiert man besonders verstört, wenn dann doch etwas passiert. Dazu kommt, dass wir durch die Medien jedes noch so kleine Verbrechen gemeldet bekommen. Und bei Kindern reagieren wir evolutionär bedingt wesentlich heftiger. Die ständige Aktivierung des Angstzentrums macht uns zu Pessimisten. Außerdem haben Eltern heutzutage mehr Zeit, sich Gedanken zu machen. „Meine Eltern haben früher rund um die Uhr gearbeitet, um uns drei Kindern eine höhere Schulbildung zu ermöglichen und etwas mehr Wohlstand zu erlangen", erinnert sich Stefan Schneider. Heute haben Eltern weniger Kinder, um die sie sich mehr sorgen. Eine größere Kontrolle durch die vielen technischen Möglichkeiten lässt uns auch häufiger prüfen, ob noch alles in Ordnung ist. Dadurch wird die Angst verstärkt. Wir werden quasi zu Kontrolljunkies, weil es ja so einfach ist und wir gewohnt sind, die Dinge unter Kontrolle zu haben.

Wir riskieren das Glück unserer Kinder

Die Folge dieser Dauerüberwachung ist schrecklich: Eltern riskieren, dass ihre Kinder Selbstvertrauen, Eigenverantwortung und auch Lebensfreude verlieren. Ohne Freiheit können sie keine Souveränität entwickeln. Kinder müssen lernen, mit den Widrigkeiten des Lebens umzugehen. So erwerben sie Kompetenzen. Manche Menschen sind mit 40 noch im Laufstall und haben immer noch Angst, übers Geländer zu steigen. Bloß nicht raus aus der Komfortzone, eher auf Rückzug bedacht, als Probleme anzugehen. Aber wer möchte auf Dauer schon mit solchen Schissern zu tun haben? Angststörungen und Depressionen sind da doch schon programmiert.

Weicheier in Outdoorkleidung

Kontrolle ist wichtig, aber um zu wachsen, braucht es Selbstbewusstsein. Nur wer Schwierigkeiten aus eigner Kraft bewältigt, entwickelt sich weiter. Es grenzt an Entmündigung, wenn Eltern ihre Kinder nichts mehr machen lassen. Sie sollten ihnen auch mal etwas zutrauen, dann können sich die Kinder auch wieder entspannen. Denn sie wollen lernen und Erfahrungen machen - sonst resignieren sie. Weicheier in Outdoorkleidung, die nur kernig wirken wollen, braucht niemand.


Von Ann-Christin Baßin

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