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Wo in Wien tote Bäume leben

Von kopflosen Hirschkäfern und Scheinbeeren: Spaziergang zu den Baumleichen im Sternwarte-Areal - auch ein Jahr nach der Eröffnung ein wenig frequentierter Park

Seit Mai 2013 ist der als Naturdenkmal geschützte Sternwartepark in Wien-Währing für die Öffentlichkeit zugänglich. 130 Jahre nach seiner Inbetriebnahme wurden im vergangenen Jahr auch der Allgemeinheit die Pforten zur Besichtigung geöffnet.

Der Öffnung im letzten Jahr gingen Diskussionen zwischen der Bundesimmobiliengesellschaft, die als Eigentümerin auftrat, der Stadt Wien und Bürgerinitiativen voraus. Die Rolle der städtischen Vertreter oszillierte zwischen Fürsprechern des Naturdenkmals und Advokaten der Bürger, denen man selbiges nicht vorenthalten dürfe. Die Debatte wurde auch medial begleitet, insbesondere die "Kronen Zeitung" verlangte nach einer Öffnung des Grünareals.

Noch im Mai 1973 vertrat das Blatt eine konträre Position und wetterte mit Schlagwörtern wie "Baum-Mord!" gegen den Ausbau des Universitätsinstituts und entsprechende Abholzungen. In einer Volksbefragung sprachen sich knapp 60 Prozent der wahlberechtigten Wiener gegen den Ausbau und eine Öffnung aus. Daraufhin trat der damalige Bürgermeister Felix Slavik zurück. Der Konflikt und die Mediekampagnen um das fast sechs Hektar große Areal in den frühen 70er-Jahren befeuerten die Entwicklung eines Umweltbewusstseins in der österreichischen Hauptstadt.

Bis Mai 2013 durfte der Park nur von Institutsmitarbeitern und im Rahmen von Führungen betreten werden. Der Eröffnung fielen schließlich 50 bis 60 Bäume zum Opfer, um die Wege für Besucher sicher zu machen. Die toten Überreste werden als Lebensräume von Flora und Fauna genutzt.

Von der Ecke Türkenschanzstraße/Sternwartestraße aus betritt man die Stadtwildnis inmitten der Villen des Cottageviertels durch ein Tor aus Stein. Ein Kieselweg führt den Besucher hinein ins bewaldete Gelände.

Der Sternwartepark reiht sich als untypische Erscheinung in die lange Liste der Wiener Grünflächen. Wie ein kleiner Urwald schirmt er den Spaziergänger im Inneren von der Stadt, ihrer Hektik und dem Lärm ab. Hier dominiert die wilde Natur: Die Büsche wuchern, die Bäume wachsen, wie sie wollen, das Gras wird nicht gemäht. Gärtner werden nicht gebraucht. Auch Parkbänke sucht man vergeblich. "Es geht darum, die Natur abseits vom gepflegten Rasen zu erleben, es soll ein wilder Fleck sein", betont Harald Gross, Leiter des Team Artenschutz der Wiener Umweltschutzabteilung MA 22. 

Nicht nur lebende Pflanzen haben hier ihre Daseinsberechtigung. Baumleichen sind das Spezifikum des Sternwarteparks. "Wir haben es nicht mit einer Kopie der Pflanzengesellschaft wie im Wienerwald zu tun, sondern hier ist etwas ganz Eigenes", sagt Gross.

"Auch auf Eingriffe ins Ökosystem wird vollständig verzichtet." Ausnahme: Maßnahmen für die Wegehaftung. Derartige wurden im vergangenen Jahr einschneidend durchgeführt - fast 50 Bäume wurden gefällt. Stümpfe wie dieser stehen nun zwischen den noch lebenden Bäumen. Sie verrotten langsamer als ihre bereits umgefallenen Genossen, die der Feuchtigkeit stärker ausgesetzt sind.

"In der Natur gibt es nicht den gesunden Baum", erklärt Gross, "es sterben immer auch Teile ab." Bei den Baumleichen handle es sich um "wertvolles Totholz", das über Jahrzehnte ein wichtiger Lebensraum für unzählige Arten sei. Hunderte Pilze bevölkern gerne tote Bäume.

Die Große Wildbiene zum Beispiel ist eine Holzbiene. Sie braucht das morsche Holz, um zu nisten. Viele Insekten, die im toten Holz wohnen, haben dabei unterschiedliche Präferenzen: Manche bevorzugen lebendes Holz, manche schätzen den Übergang zur Vermorschung, andere mögen den toten Baum, und einige favorisieren das schon fortgeschritten zersetzte Holz. "Sie nutzen das Holz und entwickeln sich darin", berichtet Gross.

Auf der Baumrinde liegt das Skelett eines Hirschkäfers, Insekt des Jahres 2012 und eine EU-weit streng geschützte Art. Die geweihartigen Oberkiefer sind gut erkennbar. "Hirschkäfer gibt es in Wien noch recht häufig", erzählt Gross. Dieses Geschöpf fiel wohl einem Vogel zum Opfer. Mit dem Schnabel wurde es ausgehöhlt. Da das Nervensystem des dämmerungsaktiven Käfers vergleichsweise eingeschränkt ist, kann er auch noch ohne Kopf weiterlaufen. Die Larven entwickeln sich bevorzugt im Wurzelbereich toter Bäume. Die Larve bleibt zwischen drei und sieben Jahre im Holz - wie lange, hängt vom Nährstoffgehalt des Holzes ab.

Diese alte Pappel ist schon viele Jahre tot. Der Baum weist sehr viele Ausbohrlöcher auf. Anhand der Lochform kann der Experte erkennen, welche Insekten sich hineingelöchert haben. In den Löchern leben Käfer, Wespen und andere Insekten. Verschiedene Bienenarten legen ihre Eier zum Beispiel in Käfergänge. Neben diesen kann man häufig auch unterschiedlich große Spechtlöcher erkennen, in denen Meisen nisten können. Was der eine nicht mehr braucht, ist für den anderen gerade optimal.

Beim Verlassen der für den Besucher vorgesehenen Wege droht eine Verwaltungsstrafe. Bei einem Unfall auf verbotenen Pfaden haftet der lokale Förster, nicht die Stadt. Der Park ist außerdem hundefrei. Es gibt bewusst keine Vorrichtungen, auf denen sich der neugierige Gast ausruhen kann. Nicht der Besucher, sondern die Natur steht im Mittelpunkt. Wer einen typischen Ausflug in den Park plant, wo man im Gras liegen, auf Bänken in einem Buch schmökern oder im Gastgarten eine Kleinigkeit zu sich nehmen kann, den zieht es noch immer in den Türkenschanzpark. Dieser Park, zweieinhalb mal so groß und unweit des Sternwarteareals, hat laut MA 22 noch immer deutlich mehr Gäste.

Auch Honigbienenstöcke gibt es im Sternwartepark. Sie werden von einer Imkerei gepflegt.

Auf den ersten "Lauscher" ist es zurzeit für den Naturunkundigen überraschend still im Sternwartepark. "Es rufen uns immer wieder Menschen an, die befürchten, die Natur sei tot, weil sie keine Vögel hören", erzählt Gross. Die Brutzeit der Vögel ist zu dieser Jahreszeit vorbei. "Es muss weder umeinander geworben noch das Revier gesanglich markiert werden." Dafür tritt ein anderes, zurückhaltenderes Orchester auf: Es tönen die Heuschrecken, die Bienen summen, und der Specht klopft im Takt.

Zu sehen ist eine Indische Scheinerdbeere. Ihre Blüten sind gelb, vereinzelt schauen sie unter den Blättern hervor. Auf den Disteln daneben vergnügen sich friedfertige Hummeln und Wildbienen. "Allein im Wiener Stadtgebiet gibt es 50 verschiedene Hummelarten", sagt Gross. Auch in den Stängeln der Disteln leben kleine Wesen. Darüber hinaus kommen auch sogenannte Neubürger im Sternwartepark vor. Damit sind Pflanzen gemeint, die ursprünglich nicht heimisch sind, zum Beispiel der Sommerflieder. Sie breiten sich oft sehr schnell aus.

"Ein toter Baum wie dieser hat schon rein äußerlich eine gewisse Ästhetik", schwärmt Gross über diesen Baum. Tote Bäume werden rückstandslos von der Natur aufgenommen. Liegende vermorschen schneller als stehengelassene Bäume. Sie werden von unzähligen Organismen zersetzt.

Ursprünglich gab es hier kein Waldgebiet. Die Türkenschanze war ein Sandlebensraum.

Zu den größeren Bewohnern des Parks zählen die Dachse. Ihnen gehören die Dachsbauten in einem unterhöhlten Hügel bei diesem umgestützten Baum im hinteren Teil des Parks, der für Besucher nicht erlaubt ist. Und auch ein Waldkauz haust im Grüngelände an der Sternwarte.

Inmitten des Naturjuwels, zwischen den Bäumen und Büschen, tut sich eine Lichtung auf. Gemäht wird nicht, die Gräser und Blumen blühen. Vereinzelt fliegen Russische Bären herum - eine streng geschützte Schmetterlingsart. Die Unterseite ihrer Flügel ist signalrot und soll dem Feind eine unerwartete Überraschung bereiten, die dem Falter im Fluchtfall einen Vorsprung verschaffen soll.

Benannt ist der Park nach der dort befindlichen Sternwarte des Astronomie-Institutes der Uni Wien. Die astronomische Forschungsstätte wurde im Jahr 1883 von Kaiser Franz Joseph I. eröffnet und bildet das geografische Zentrum der kleinen grünen Lunge. In der großen Kuppel des Instituts steht der „68-Zentimeter-Refraktor“, auch Himmelskanone genannt. Zum Produktionszeitpunkt war er das größte Linsenfernrohr der Welt. Der Durchmesser der Kuppel beträgt 14 Meter. Noch immer gilt das Gebäude weltweit als der größte baulich geschlossene Sternwartekomplex.

Der Park ist nur werktags geöffnet. Die Befürchtung aus dem letzten Jahr, er könnte mit der Pfortenöffnung von Besuchermengen und Touristengruppen überrannt werden, konnte die Wiener Umweltschutzabteilung bislang nicht bestätigen.

Harald Gross organisiert auch Führungen durch den Sternwartepark: "Eine meiner liebsten Fragen bei solchen Runden ist die nach der Altersbestimmung von Marienkäfern. Es gibt so viele Menschen, die noch immer an das Volksmärchen mit den Punkten glauben." Beim letzten Rundgang im Juni blieben Interessierte allerdings aus, Gross drehte seine Runde alleine über das grüne Gelände. Im September findet die nächste Führung statt. (Anja Melzer, derStandard.at, 29.7.2014)

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