Wir bluffen, inszenieren und spielen Theater, um unser Selbst zu präsentieren. Wir wollen anders sein - und trotzdem nicht zu sehr auffallen. Und dabei müssen wir auch noch glücklich sein.
Manfred Prisching spricht mit den SN über das Innerste des Menschen: das Selbst. Wo wir jedoch einen harten Kern vermuten, sieht der Soziologe und Autor des Buchs "Das Selbst, die Maske, der Bluff" jedoch nur eine große Bastelarbeit. Ein Gespräch über aufgespritzte Lippen, Glück und die Überforderung dadurch, dass man ganz und gar "Ich" sein will.
Frage: Jahrelang hat man mir eingeredet, dass ich einzigartig bin. Jetzt schreiben Sie in Ihrem Buch, dass ich einfach nur gewöhnlich bin. Das ist hart.
Prisching: (Lacht) Ja, die Einzigartigkeit wird schon Jugendlichen angesonnen. Mit 15 muss ich mir überlegen, wer ich bin, wie zieh ich mich an, wie kriech ich in mich hinein. Ich muss innovativ, kreativ sein und meine ganze Persönlichkeit einbringen. Gleichzeitig sind die Leute jedoch nicht so originell. Auf der Straße beobachten wir unterschiedliche Milieus und Szenen und einen hohen Grad an Anpassung innerhalb dieser. Die zwei Trends Individualisierung und Anpassung widersprechen sich, ergänzen sich aber auch.
Frage: Woher kommt die Vorstellung, dass wir einzigartig sind?
Prisching: In den vergangenen Jahrzehnten gab es eine Explosion der Konsumgesellschaft. Die gekauften Accessoires sind Symbole, derer wir uns bedienen. Die Werbung vermittelt uns: Wenn du das kaufst, umschnallst oder umhängst, bist du ein besonderer Mensch. Oder zumindest weißt du, wer du bist.
Frage: Was wäre denn der Nachteil daran, individuell zu sein?
Prisching:Gar nichts. Das Problem dabei ist nur, dass die Leute damit überfordert sind, ihre einzigartige Identität zu finden. Im Inneren finden sie ja nur, was sie vorher hineingesteckt haben - oder was die Werbung hineingesteckt hat. Es ist eine unglaubliche Aufgabe, sein Selbst zu bauen. Was dabei herauskommt, ist oft Pfusch und hat höchstens die Originalität eines Baumarkts.
Frage: Wir halten uns also gleichzeitig für individuell und wollen dennoch angepasst sein. Das passt doch nicht zusammen?
Prisching: Stimmt, das ist ja auch Teil des Problems. Wir wollen ja nicht so individuell sein, dass es uns hinauskatapultiert aus der Gesellschaft. Da setzt der Bluff ein, der diese Kluft überwindet. Doch die Leute lügen und inszenieren sich nicht nur, denn das haben sie schon immer getan. Die Menschen wissen alle, dass man blufft - das Spiel wird aber dennoch als positiv empfunden. Wer nicht blufft, ist der Trottel.
Frage: Eigentlich belügen wir uns selbst und andere - klingt pessimistisch.
Prisching: In vielen Bereichen ist das so, es gibt ein ganzes Repertoire an Bluff-Strategien. Die Wirtschaftskrise war ein gegenseitiger Bluff, Schönheitsoperationen sind es ebenso. Aufgespritzte Lippen merkt man ja - spätestens dann, wenn die Menschen nicht mehr lachen, weil sie Angst haben, dass etwas reißt. Aber das macht nichts, weil es akzeptiert ist. Man tut so, als ob man ausschaut, wie man nicht ausschaut. Warum auch nicht.
Frage: Sie schreiben auch, dass wir bei jeder Handlung auf den Publikumserfolg schielen. Wir verhalten uns also je nach Gruppe anders?
Prisching: Ein bisschen schon, ja. Es gibt "multiple Selbste", gleichzeitig dürfen wir aber nicht auseinanderfallen. Der Fleischhauer, der Vegetarier ist, wäre zum Beispiel unplausibel. Dennoch ist unser Selbst in jeder Gruppe anders akzentuiert, wir ändern uns ein bisschen ab. Jörg Haider soll zum Beispiel in jedem Auto drei Anzüge gehabt haben, für jedes Publikum hat er einen anderen angezogen.
Frage: Das heißt, wir spielen alle Theater.
Prisching: Ja. Wirklich entscheidend aber ist, dass die anderen wissen, dass es Theater ist. Manchmal bin ich bei Bewerbungsgesprächen dabei. Die Bewerber sind teils unbeholfen - andere tanzen auf, sie haben Ratgeberbücher gelesen und sagen, was erwartet wird. Die Chefs nehmen die Schmähführer, weil es auch eine Leistung ist, zu wissen, was man hören will.
Frage: Sind die Menschen mit dem Bluff glücklich?
Prisching: In einer Konsumgesellschaft musst du deine Selbstentfaltung im Beruf finden und in Dingen, die du kaufst. Familie kommt so ein bisschen nebenbei. Du musst permanent glücklich sein - wenn du nicht euphorisch bist, hast du einen Fehler gemacht. Dabei geht das schon biologisch nicht, nach ein paar Monaten dauernder Euphorie und Adrenalin wärst du tot. Alles unterhalb der Ekstase empfinden wir aber als eine verpfuschte Angelegenheit. Was bleibt, ist das permanente Gefühl: Irgendwie ist alles enttäuschend.
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