"Ich Depp habe mir die Nase zugehalten", sagt Bernhard Nuss, wenn er die Geschichte vom Niesanfall erzählt, der so dramatische Folgen hatte. Es ist 1991, Bernhard Nuss, 30 Jahre alt, besucht seine Eltern. Er weiß bereits um seine Magengeschwüre, unterschätzt aber die Gefahr. Er niest, hält sich reflexartig die Nase zu und liegt im nächsten Moment bewusstlos auf dem Boden: Der Druck hat die Hauptschlagader seines Magens zerrissen.
Nuss lebt zu dieser Zeit bereits in Nürnberg, wo eine Ambulanz schnell zur Stelle sein könnte. Nicht so in Altbessingen in Unterfranken, wo seine Eltern wohnen und außer ihnen nicht einmal 500 andere, Würzburg ist 30 Kilometer weg. "Wenn du da einen Notarzt rufst", sagt Nuss, "braucht der eine halbe Stunde." Während er auf dem Küchenboden im Elternhaus innerlich zu verbluten droht, sei er, ganz wie man es aus Filmen und Erzählungen kennt, einem wundervollen Licht entgegengestiegen, auf Treppenstufen in den Himmel, erzählt er.
Heute ist Bernhard Nuss ein schlanker Mann, dem man seine 58 Jahre zwar ansieht, aber auf eine sehr gesunde Weise: kernig, volles Haar, massiver Schnurrbartbalken unter der Nase. Er habe, sagt Nuss, fünf oder sechs dieser Treppenstufen Richtung Jenseits hinter sich gebracht und nein, er habe nicht umdrehen wollen, das Licht war ja so schön, aber dann habe er es doch getan und sei in seinen Körper zurückgekehrt. Nuss hatte Glück: Ein Notarzt hat gerade in diesem Moment einen Einsatz im Nachbardorf beendet und ist fünf Minuten später vor Ort.
Nun rebelliert die PsycheDrei Monate liegt Nuss im Würzburger Krankenhaus. Er wird drei Mal operiert: zwei Drittel seines Magens, sein Zwölffingerdarm, seine Gallenblase werden entfernt. Aber er überlebt. Und wenn das eine fiktive Geschichte wäre, wäre das der Moment, in dem ein Mann sein Leben ändert, die Initialzündung. Nuss arbeitet zu dieser Zeit als Außendienstler einer Versicherung. Er ist gestresst, er raucht, trinkt viel Kaffee. Der Körper hat ein Alarmsignal gesendet.
"Wenn du so ein Endzeiterlebnis hast", sagt Nuss, "merkst du, was du ins Jenseits mitnimmst: genau den Dreck unterm Fingernagel. Das war die Erkenntnis und ich habe versucht, danach zu leben, aber nach ein paar Jahren ging das wieder schief." Nach dem Klinikaufenthalt wechselt Nuss in den Außendienst eines Schraubenherstellers. Zehn Jahre vergehen und diesmal rebelliert die Psyche, Nuss steht kurz vorm Burn-out, leidet unter Niedergeschlagenheit und Anspannung. Seine Frau Inge sieht, dass sich etwas ändern muss, irgendwas. Sie sagt: "Lass mal eine Runde Fahrrad fahren." Nuss, der selbst gar kein besitzt, leiht sich das Mountainbike seines Sohns und das Ehepaar fährt eine Stunde lang durch die angrenzenden Wälder Mittelfrankens.
Als Kind habe er Fußball gespielt, natürlich, wie alle da. Danach nie wieder Sport gemacht. Bernhard Nuss musste 40 Jahre alt werden, um seine Leidenschaft, seine Berufung zu finden. Am darauffolgenden Tag meldet er sich im nächsten Radverein an, sein Bruder schenkt ihm sein Rennrad. Nuss überwindet die Anfangsschwierigkeiten, kämpft sich ran und knackt bald die 100-Kilometer-Marke: "Das war überwältigend. Wenn das Monate vorher einer zu mir gesagt hätte, ich hätte ihn für verrückt erklärt."
Mittlerweile ist Nuss kein Außendienstler mehr, sondern Personal Trainer. Und Weltrekordhalter. Im vergangenen Jahr hat er, den sie den Eisernen Franken nennen, 66 Ironmen absolviert, also 66 Langstrecken-Triathlons. Er hat damit den bisherigen Rekord um sechs Ironmen überboten. Aufs ganze Jahr 2019 gerechnet macht das 250 Kilometer Schwimmen, 11.880 Kilometer Radfahren und 2.785 Kilometer Laufen. Innerhalb weniger Jahre ist es ihm gelungen, sich Schritt für Schritt in den elitären Kreis der Ultra-Athleten hinaufzuarbeiten. Er will nicht höher und schneller, sagt Nuss, er will immer weiter.