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Die Unbeugsame

Seit einem Unfall ist Maria-Cristina Hallwachs vom Kinn abwärts gelähmt. Sie hat es geschafft, maximale Abhängigkeit mit größtmöglicher Eigenständigkeit zu verbinden.

Das Unglück passierte vor zwanzig Jahren. Maria-Cristina Hallwachs ist 18 Jahre alt, hat Abitur gemacht, will studieren, rudert, tanzt zur Musik von Depeche Mode und genießt das Zusammensein mit ihrem ersten Freund. Mit ihren Eltern fliegt sie nach Kreta, ein Urlaubgsgeschenk, um sich vom Lernstress der vergangenen Monate zu erholen. Übermütig springt sie kopfüber in den Swimmingpool des Hotels, von der Nichschwimmerseite aus, und prallt mit dem Kopf auf den Beckenboden. Genickbruch. Ein Hubschrauber der Rettungsflugwacht fliegt sie nach der Erstversorgung in eine Spezialklinik nach Deutschland.

"Im Helikopter nach Tübingen hat mein Vater sich gewünscht, dass wir abstürzen", erzählt Maria-Cristina Hallwachs. Sie bekommt von alldem nichts mit, an die ersten zwei Wochen nach dem Unfall erinnert sie sich nicht. Als sie im Krankenhaus zu sich kommt, hört sie, wie über ihr Leben verhandelt wird. Sie wird nie wieder gehen können und muss beatmet werden. "Dein Leben wird sich im Bett abspielen", prophezeien ihr die Ärzte. Jetzt soll sie selbst entscheiden, ob sie solch ein Leben riskieren will. "Willst du weiterleben?", fragen sie. Maria-Cristina will.

Zwanzig Jahre später folgen Scheinwerfer Maria-Cristinas Weg auf die Bühne des Stuttgarter Staatstheaters. Neunmal tritt sie im Sommer 2013 im hellen Kostüm mit dem Stück "Qualitätskontrolle" des Theaterkollektivs Rimini-Protokoll auf. Neunmal ist die Vorstellung ausverkauft, in der sie als Expertin für beschädigte Körper im Rollstuhl vor einer Leinwand sitzt und erzählt, wie ihr ihr Lebensplan abhanden gekommen ist und wie der Alltag mit einem "hohen Querschnitt" aussieht. Der Abend kreist um die Frage, wann das Leben lebenswert ist und wer darüber entscheidet. Maria-Cristina erzählt keine Geschichte von Selbstmitleid und Trauer, sondern eine von Dankbarkeit, Freude und Sinn. "Ich lache", sagt sie. "Oft." Sie spricht offen, ihr Gesicht spiegelt kein Selbstmitleid mit ihrem schweren Schicksal wider, sondern eine souveräne Distanz – als erzähle sie nicht über sich, sondern über jemanden, den sie sehr gut kennt. An manchen Stellen keucht sie ein wenig und klingt etwas abgehackt, weil ihr Zwerchfell-Stimulator, eine Art Schrittmacher, das Einatmen vorgibt. Alle vier Sekunden bekommt sie einen Stoß Luft, manchmal mitten im Satz.

Seit dem Unfall ist Maria-Cristina Hallwachs vom Kinn abwärts gelähmt. Sie braucht Hilfe beim Waschen, beim Anziehen, beim Toilettengang und wird dauerhaft künstlich beatmet. Wenn jemand ihre Haut berührt, spüre sie gar nichts, erst ab dem Kinn aufwärts nehme sie Berührungen wahr, sagt sie. Nachts wird Hallwachs von einer Maschine beatmet, die Luft direkt in ihre Lungen bläst. Das Beatmungsgerät steht in einem anderen Zimmer, damit es ihr mit seinem Lärm nicht den Schlaf raubt. Tagsüber hat sie einen Zwerchfellstimulator, der sie unabhängig macht von Beatmungsschläuchen und mehr Bewegungsfreiheit ermöglicht.

Tag und Nacht kümmern sich Krankenschwestern und Pfleger um sie, zehn sind es insgesamt, die abwechselnd für sie da sind. Pflegestufe 3+, mehr geht nicht. Die Krankenkasse übernimmt die Kosten. "Natürlich bin ich von meinem Team abhängig", sagt Hallwachs, "aber wenn man sich so gut versteht wie wir uns mittlerweile, geht dieses Gefühl der Abhängigkeit ein bisschen weg." Es geht auch dadurch weg, dass Maria-Cristina in zwanzig Jahren gute Ideen für die Lösung von 1001 Problemen ausgekundschaftet hat: Laufen zu können, das kann man durch einen Rollstuhl prima ersetzen, sagt sie. Die Arme bewegen zu können, wäre manchmal schon ganz praktisch, aber sie steuert ihren Rollstuhl mit dem Kinn-Joystick, die Computertastatur bedient sie mit einer umfunktionierten Stecknadel.

Im August 1994 wird Maria-Cristina aus dem Krankenhaus entlassen. Sie ist zwanzig Jahre alt. Eine Schonzeit gönnt sie sich nicht. Sie erwartet viel von sich und ihrer Leistung; das war schon so, bevor sie in den Pool sprang. Nach der Zeit in der Klinik will sie "einfach weitermachen", am liebsten so, wie sie es vorher auch gemacht hätte: mit einem Ziel vor Augen ihre Sache durchziehen. Sie bezieht eine große, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Altbauwohnung unter der Wohnung ihrer Eltern und reist nach Frankreich und Spanien. Ihre Eltern, ein Zahnarzt und eine Lehrerin, haben sie darin bestärkt: "Sie sagten, du wärst auch sonst ausgezogen, dann soll der Unfall nichts daran ändern."

Vor dem Unfall wollte Hallwachs Kinderärztin werden, vielleicht weil sie noch eine jüngere Schwester mit einer seltenen Behinderung hat. Aber sie erkannte rasch, dass das nicht klappen würde. Und entschied sich, Romanistik und Geschichte zu studieren, weil Französisch "ihre Leidenschaft" war. Durch das Studium kämpft sie sich durch. Der Aufwand ist groß: Selbst mal eben in einem Buch blättern? Das kann sie nicht. Ihre Mitstudenten halten Abstand, schließlich schickt sie den Pfleger, der sie zu allen Kursen begleitet, ab dem zweiten Semester vor die Tür, damit er draußen wartet. Trotzdem: "Ich musste immer darum kämpfen, dazu zu gehören." Wenn Maria-Cristina um ein Skript bittet, weil sie nicht mitschreiben kann, ist sie überrascht über die fehlende Hilfsbereitschaft, die ihr entgegenschlägt. Erst später habe sie begreifen können, dass nicht unbedingt Ablehnung dahinter stecke, sondern Unsicherheit, wie man mit ihr umgehen solle.

Kurz vor ihrem Diplom bricht Maria-Cristina zusammen. Sie nahm zu wenig Rücksicht auf ihre Grenzen und überforderte sich häufig. Den Zeitbonus, den man ihr im Studium gewährte, nahm sie nicht an: "Ich war zu stolz", sagt sie, "ich wollte alls in demselben Tempo durchziehen wie die anderen." Fünf Tage lang lag sie im Koma. Erst danach, erzählt sie im SWR-Talk "Leute", habe das Fragen richtig angefangen. Ihren Körper neu anzunehmen war das Schwerste, was sie nach dem Unfall lernen musste. Manchmal stelle sie ihr Leben infrage, erzählt Hallwachs, aber diesen Gedanken wischt sie meist schnell wieder weg. "Der Blick zurück macht nur unglücklich." Maria-Cristina möchte lieber glücklich sein und sich selbst beweisen, dass sie ein schönes und erfülltes Leben führen kann. Sie hat ein Talent dafür: Sie ist Optimistin. "Ich frage mich nicht so oft: 'Warum ist das jetzt so? Warum ist mir das passiert?'" Ihr neues Leben hat sie mit großer Energie angenommen.

Dabei geholfen hat ihr, dass sie Herausforderungen mag. Einmal veranstaltete ihr ehemaliger Pfleger Dave eine Party im Obergeschoss des Hauses, in dem sie wohnt. Er lud sie dazu ein, aber ohne Aufzug schien das auf den ersten Blick nicht machbar. Dave dachte nicht lange nach und trug seine Patientin zusammen mit einem Freund in seine Wohnung. "Dort haben sie mich aufs Sofa geworfen", erzählt Maria-Cristina, "wir hatten einen lustigen Abend." Die Schürfwunde, die sie sich bei der Aktion zugezogen hat, nahm sie gerne in Kauf.

Sie hat immer noch viele Ideen und Vorstellungen, was sie machen könnten und auch unbedingt machen will. "Ich muss mich immer sehr disziplinieren, um abzuwägen: Das kann ich mir körperlich leisten – und das nicht", sagt sie. Als nach dem Studium klar war, dass sie nie in Vollzeit würde arbeiten können, hat sie sich eine neue Aufgabe gesucht. Im Stuttgarter Zentrum selbstbestimmtes Leben engagierte sie sich als Vorstandsmitglied, Beraterin und Projektleiterin. Heute unterrichtet sie Auszubildende für medizinische Berufe und hält Vorträge über selbstbestimmtes Leben, Leben mit Beatmung und Reisen mit Intensivpflege.

Seit einiger Zeit betreibt sie die Website "Leben-mit-Beatmung". Darauf bietet Maria-Cristina ehrenamtliche Unterstützung und Beratung für Menschen an, die wie sie künstlich beatmet werden. Die Bilder auf der Website zeigen Maria-Cristina, wie sie mit Umblätterhilfe ein Buch liest, beim Waldspaziergang mit Freunden und sogar beim Baden mit einer Rettungsweste an der spanischen Küste. Nur eines sieht man nicht auf dieser in warme Farben getauchten Internetseite: Maria-Cristina als Patientin, passiv im Bett liegend. Genau darum geht es ihr: "Wir sind nicht nur Patienten, wir sind eigenständige Persönlichkeiten", schreibt sie auf der Website. "Wir müssen lernen, wie wertvoll unser Leben ist. Erst dann können wir es anderen zeigen."

Text: Ana-Marija Bilandzija und Birgit-Sara Fabianek (Publik-Forum Nr.24/2013)
Foto: Ana-Marija Bilandzija