Carlos ist 20, studiert Systemtechnik an einer Universität in der Stadt León in Nicaragua und ist vermeintlicher Terrorist – so zumindest der Verdacht der Regierung. Sein Verbrechen: Wie zehntausende weitere Studierende im ganzen Land engagiert er sich für die Proteste, die seit Mitte April den Rücktritt von Präsident Manuel Ortega und dessen Frau und Vizepräsidentin Rosario Murillo fordern. Ihnen wird Machtmissbrauch, Klientelismus und ein diktatorischer Regierungsstil vorgeworfen.
Zunächst gingen Studierende gegen die Untätigkeit des Staates im Kampf gegen einen Großbrand im Naturreservat Indio Maíz auf die Straße, dann gegen eine umfassende Reform der Sozialversicherung. Die Situation war aber auch zuvor schon angespannt, der Waldbrand und die Reform brachten das Fass zum Überlaufen. Immer mehr Menschen schlossen sich den Demonstrationen an, doch diese wurden gewaltsam niedergeschlagen. Friedensgespräche, die die einflussreiche katholische Bischofskonferenz als Vermittler organisierte, brachten keine Einigung. Präsident Ortega erschien nur zur ersten Gesprächsrunde, dann lies er sich vertreten. Bald kamen die Verhandlungen zum Stillstand.
Währenddessen hat sich die Situation immer weiter verschlechtert. Bereits 481 Menschen wurden laut der NGO Asociación Nicaragüense Pro Derechos Humanos (APNDH) ermordet, mehr als 1200 weitere sind verschwunden und nicht mehr aufgetaucht. Gewalt und Einschüchterungsversuche seitens der Polizei – aber auch von bewaffneten paramilitärischen Organisationen, die als verlängerter Arm der Regierung gelten – nehmen stetig zu. Einem Bericht des Hohen Kommissariats für Menschenrechte der Vereinten Nationen zufolge kam es zu illegalen Festnahmen, Folter und sogar außergerichtlichen Hinrichtungen. Die schweren Menschenrechtsverletzungen seien ein Produkt der langjährigen Erosion der nicaraguanischen Rechtsstaatlichkeit, heißt es in dem Bericht weiter.
Von Einschüchterungen kann auch Carlos berichten. Anfang September drangen neun schwer bewaffnete Polizisten in die Wohnung seiner Familie ein und durchsuchten alles. Das einzige Indiz für die Unterstützung der Familie für die Proteste, war eine Flagge Nicaraguas. „Sie sehen das als eine Waffe, weil wir sie in den Protesten mit uns tragen“ sagt Carlos. Dann nahmen sie seine Mutter auf die Polizeistation mit und verhörten sie stundenlang.
Ortega war das Gesicht der sandinistischen Revolution der 70er. Doch er habe die sandinistischen Ideale schon lange vergessen und sei machtgierig geworden, kritisieren die Demonstranten. „Er hat unsere sandinistischen Symbole gekidnappt. Wir wollen sie uns zurückholen,“ sagt Madelaine Caracas (20), Kommunikations-Studentin und Mitglied der Coordinadora Universitaria por la Democracia y Justicia (Universitäre Koordinationsgruppe für Demokratie und Gerechtigkeit). Um das zu erreichen, setzen sie auf friedlichen Widerstand. Keinesfalls wolle man sich bewaffnen. Der Schrecken des blutigen Bürgerkriegs der 70er sitzt noch tief. „Meine Eltern hätten nie gedacht, dass ich einmal so etwas wie damals erleben müsste,“ sagt Caracas. Damals erreichten die Sandinisten den Sturz von Diktator Anastasio Somoza Debayle. Heute werfen die Demonstranten Ortega vor, ebenfalls zu einem Diktator geworden zu sein.
Sie hoffen auf internationale Unterstützung und Druck auf die Regierung aus dem Ausland. So machte sich Caracas gemeinsam mit der Soziologin und Universitätsdozentin Yerling Aguilar im Juni auf den Weg durch Europa, um auf die Menschenrechtsverletzungen im Land aufmerksam zu machen. Laut Plan wollten sie nach einigen Wochen wieder nach Nicaragua zurück. Doch vor ihrem Abflug erhielten sie Drohungen, man würde sie umbringen, sollten sie wieder einen Fuß auf nicaraguanischen Boden setzen. Deshalb ist Aguilar heute in Spanien. Auch ihre Familie musste das Land aus Sicherheitsgründen verlassen und ist nach Spanien nachgekommen. Caracas ist derzeit in Costa Rica, wo sie sich für die über 25,000 Flüchtlinge einsetzt, die im Nachbarland Schutz suchen.
Die Universitäten sind derzeit großteils geschlossen, ans Studieren ist hier nicht zu denken. Es gäbe Wichtigeres zu tun, sagt Carlos: „Trotzdem bedeutet es auch, dass wir alle ein Jahr verlieren.“ Einige Universitäten versuchen jedoch inzwischen Online-Kurse anzubieten, wie etwa die private Universidad Centroamericana (UCA). Und öffentliche Universitäten wollen den gewohnten Betrieb bald wieder aufnehmen. „Das passiert auf Druck der Regierung. Sie will vortäuschen, dass alles wieder normal ist,“ sagt Caracas. So sieht es derzeit nicht so aus, als würde der Präsident der Forderung der Demonstranten bald nachkommen.
(Der Standard, 11.10.2018)
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