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Ausnahmezustand in Nicaragua: Proteste brodelten seit langer Zeit

Bereits fast 300 Tote bei Demonstrationen - Menschenrechtsaktivistinnen wollen in Europa auf Lage aufmerksam machen


Die Bevölkerung Nicaraguas protestiert seit über zwei Monaten gegen die Regierung von Präsident Daniel Ortega, der weiterhin mit Gewalt antwortet. Menschenrechts-Aktivisten suchen nun Unterstützung bei der Internationalen Gemeinschaft: Studentin Madelaine Caracas und die Soziologie-Dozentin Yerling Aguilar sind diese Woche in Österreich – sie hoffen auf Engagement im Zuge des EU-Ratsvorsitzes.


Zorn über die Untätigkeit der Regierung während einem verheerenden Waldbrand sowie eine umstrittene Pensionsreform entzündeten die schon lange angespannte Situation im Land. Studenten waren die ersten, die auf die Straße gingen – mittlerweile beteiligt sich die ganze Gesellschaft an den Protesten. Die Demonstranten fordern den Rücktritt von Langzeitpräsident Ortega und dessen Frau und Vizepräsidentin Rosario Murillo. Ihnen wird Machtmissbrauch, Klientelismus und ein diktatorischer Regierungsstil vorgeworfen.


Fast 300 Menschen sind im Zuge der Proteste bereits ums Leben gekommen und mehr als 1.500 wurden verletzt, so die jüngsten Angaben der nicaraguanischen Menschenrechtsvereinigung ANPDH.


Ortega „muss gehen, er hat keine andere Wahl. Ob reich oder arm, alle sind auf der Straße, alle sind betroffen,“ sagt Caracas im Interview mit der APA. Die 20-jährige Kommunikations-Studentin ist Mitglied der Coorinadora Universitaria por la Democracia y Justicia, auf Deutsch Universitäre Koordinationsgruppe für Demokratie und Gerechtigkeit, die sich im Zuge der Proteste zusammengeschlossen hat und eine wichtige Rolle bei der Organisation des Widerstandes einnimmt.


Eine Informationskampagne führt die beiden Menschenrechts-Aktivistinnen diesen Monat durch die Europäische Union. Sie wollen die internationale Gemeinschaft auf die Lage aufmerksam machen und einen Gegenpol zu den Nachrichten bilden, die von der Regierung verbreitet werden. „Ortega war einmal das Gesicht der sandinistischen Revolution, aber Menschen ändern sich,“ sagt Aguilar. Die heutige Politik des ehemaligen Revolutionärs hätte nichts mehr mit den einstigen Idealen des Sandinismus zu tun – etwa in Bezug auf Soziale Gerechtigkeit oder Antiimperialismus. So haben sich auch viele Sandinisten den Protesten angeschlossen. 


„Ortega hat die sandinistische Ideologie gekidnappt,“ sagt Aguilar. Die Demonstranten wollen diese zurückerobern. Jedoch sei es kein homogener Kampf, fügt sie hinzu. Das passiere in Massenmobilisierungen nicht, denn verschiedene Gruppen schließen sich Bewegungen aus verschiedenen Gründen an.


Ebenfalls unbeliebt gemacht hat sich Ortega durch die Planung eines interozeanischen Kanals vor fünf Jahren und der Vergabe der Konzession an einen chinesischen Investor. Schon damals gingen viele gegen die drohenden Enteignungen von Bauern in der Region, sowie die massiven Umweltbelastungen auf die Straße. Der Protest wurde jedoch schnell niedergeschlagen und erreichte nicht die Sogwirkung, die die aktuellen Demonstrationen entwickelten.


„Nicaragua braucht einen friedlichen Weg, wir wollen keinen Krieg. Die Wunden der Vergangenheit sind noch nicht geheilt,“ sagt Caracas. Damit spricht sie den Bürgerkrieg der 70er und 80er Jahre an, der zum Sturz von Diktator Anastasio Somoza Debayle führte und in dem rund 50.000 Menschen ums Leben kamen. Es gelte also, pazifistischen Widerstand zu leisten. Doch es sei eine große Herausforderung, Proteste solcher Ausmaße, in denen bereits so viele umgekommen sind, friedlich durchzuführen.


Eine vermittelnde Rolle zwischen den Demonstranten und der Regierung will die katholische Bischofskonferenz einnehmen, ein einflussreicher Akteur in Nicaragua. Sie organisierte bislang sechs Verhandlungstische. Ortega selbst hätte allerdings nur an dem ersten teilgenommen, kritisieren Aguilar und Caracas.


„Nicaragua ist im Ausnahmezustand. Meine Eltern hätten nie gedacht, dass ich einmal so etwas wie damals erleben müsste,“ sagt Caracas. Dabei ist ihr wichtig zu betonen, dass es kein Krieg sei, weil die Demonstranten-Seite nicht bewaffnet ist. Auch der Slogan der Demonstrationen wurde geändert, man will den pazifistischen Charakter betonen. Aus „Patria Libre o Morir“, auf Deutsch "Freies Vaterland oder sterben", wurde „Viva Nicaragua Libre“, "Es lebe das freie Nicaragua.


Nächste Woche geht es für die beiden weiter nach England, dann fliegen sie zurück nach Hause. Was dort auf sie wartet, wissen sie noch nicht. Die Kriminalisierung von Aktivisten sei nicht ungewöhnlich. „Wir haben ernste Drohungen erhalten. Es gefällt der Regierung nicht, dass wir hier sind,“ sagt Aguilar. In ihrer Abwesenheit sei etwa bereits ihr Haus durchsucht worden.

Doch die beiden setzen auf den Druck der weitereichenden Proteste und der internationalen Beobachter. Lange kann es nicht mehr dauern, sind sie überzeugt. (APA, 27.06.2018)