2 subscriptions and 1 subscriber
Article

Kolumbiens FARC: Aus dem Untergrund in die Politik

Manchmal ist die Revolution auch ein Kürbis. In diesem Fall ein dunkelgrüner. Er soll wachsen, reifen und einmal Kolumbien verändern. In einer kleinen Hütte in den Bergen kritzelt ein Mann die Namen verschiedener Bio-Dünger auf eine Tafel. Um ihn herum sitzen ein paar Männer und Frauen, die konzentriert zuhören. Sie wollen einmal biologische Landwirtschaft betreiben, Gemüse und Obst anbauen.

Hinten in dem mit weißen Stoffplanen umspannten Raum steht Boris Guevara, hält eine Kamera hoch und filmt das alles mit. Später wird er ein Video davon auf Youtube stellen. Der Kolumbianer ist 34 Jahre alt, will Dokumentarfilmer werden und war wie alle hier im Camp Carlos Patiño einmal ein Revolutionär. Ein richtiger, mit Gewehr, Tarnkleidung und allem, was dazugehört. Mehr als ein dutzend Jahre lebte er im Dschungel, schlief in Höhlen und kämpfte gegen die Regierung. Er gehörte zur „Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia“, kurz FARC.

Die marxistische Guerilla-Gruppe kämpfte von den 1960er-Jahren an gegen den kolumbianischen Staat und für die Revolution des Volkes. Vor einem Jahr endete der Konflikt, der mindestens 220.000 Menschen das Leben gekostet hat. Die Rebellen legten die Waffen nieder und wurden zur politischen Partei. Ihr Kürzel steht nun für „Revolutionäre Alternative Kraft des Volkes“. Nächstes Jahr nehmen sie an Parlaments- und Präsidentschaftswahlen teil. FARC-Anführer Rodrigo Londoño, alias Timochenko, geht ins Rennen um die Präsidentschaft. Die Kämpfer von damals wollen das Land friedlich verändern.
Auch darum geht es Boris Guevara im Camp Carlos Patiño, das nach einem bekannten FARC-Kommandanten benannt ist, der in den nahen Bergen ums Leben kam. Etwas mehr als hundert ehemalige Kämpfer wohnen in den sechs Reihen von je drei weißen Häuschen mit roten Wellblechdächern. Die Hügel sind überzogen mit Dschungel und Zuckerrohrfeldern, dazwischen rote Erde. Drei Stunden dauert die Autofahrt über eine einsame Bergstraße von der Zwei-Millionen-Stadt Cali aus. Das Camp Carlos Patiño ist ein Experiment, eines von 31 Übergangslagern, die über das ganze Land verstreut sind und in denen die 7000 ehemaligen Guerilleros untergebracht sind. Hier wollen sie lernen, wie sie nach all den Jahren in eine kolumbianische Gesellschaft passen, die sie die längste Zeit mit der Waffe in der Hand bekämpft haben. „Die Regierung will, dass wir in unser Leben vor dem Krieg zurückgehen und das revolutionäre Projekt vergessen,“ sagt Guevara. Aber das, so viel sei klar, werde nicht passieren.

Über mehrere Tage stand profil mit dem ehemaligen Kämpfer in Kontakt, er schickte Fotos und Videos. Es sind Dokumente eines Wandels, den die ehemalige Kämpfergruppe durchmacht. Die FARC war lange gefürchtet, viele Kolumbianer misstrauen ihren Mitgliedern noch heute. Die Medien würden einen regelrechten Informationskrieg gegen die Gruppe führen, sagt Guevara. Er möchte dagegen halten, lädt auf dem Youtube-Kanal der FARC-EP kurze Filme hoch. Die ehemaligen Unruhestifter bemühen sich, geben sich mal bodenständig, mal staatsmännisch. In den Camps wollen sie beweisen, dass das geht: Revolution ohne Chaos, Ideen statt Waffen.

Der Tag im Camp Carlos Patiño beginnt früh, spätestens um 6 Uhr. Dann fängt Guevara an zu filmen oder an vorhandenem Material zu arbeiten. Die anderen gehen auf die Felder oder in den Unterricht. Alles dreht sich um die Landwirtschaft, den Kaffeeanbau den Ökotourismus, die schönen Berge und die Felder rund um das kleine Camp. Am Abend würde man noch in Grüppchen zusammen sitzen oder mit den Kindern ein bisschen Fussball spielen. Die meisten kennen sich noch von früher, aus ihrem Leben im Untergrund. Die gemeinsame Geschichte schweiße zusammen, Streit gäbe es kaum.
Gebaut hat ihnen ihr Dorf ihr ehemals größter Feind, der Staat. Das Essen wird von der UN und durch bilaterale Hilfsleistungen finanziert. 4,70 Euro pro Person darf das maximal kosten. Das legte die Regierung im Friedensvertrag fest, in dem die Einrichtung der Übergangszonen geregelt ist. Solange nicht alle Waffen eingesammelt waren, mussten die FARC-Kämpfer sich in eines der Camps begeben. Im Sommer bestätigte die UN, dass die Rebellengruppe alle Waffen übergeben hat. Theoretisch könnten Guevara und seine Genossen das Camp Carlos Patiño nun verlassen, wieder in die Städte ziehen oder sonstwo hin. Im Dezember läuft der Versorgungsvertrag mit der UN aus. Auch deswegen lernen die Ex-Revolutionäre, wie man Gemüse und Obst anbaut. Nach anfänglichen Versäumnissen der Regierung beim Bau der Camps haben die Bewohner es jetzt fast fertig gestellt und beschlossen: Wir werden erstmal bleiben.
Es liefe gut hier, die Menschen aus den kleinen Dörfern rund um das Camp hätten die Guerilleros freundlich aufgenommen. In anderen Gegenden sei die Stimmung angespannter, in manchen Camps sind Polizisten stationiert. Eine ungewohnte Situation für die FARC-Guerillos, die sich lange in den entlegenen Gegenden des Landes aufhielten. Früher hatten sie Waffen, konnten sich verteidigen. Jetzt sind sie darauf angewiesen, dass der Staat funktioniert. „Sicherheit gibt es momentan nirgends,“ sagt Guevara.
Auch das zeigt sich deutlich, seit in Kolumbien offiziell Frieden ist: Die FARC war bei weitem nicht das einzige Problem des Landes. Dem Staat gelingt es bislang nicht, das Gewaltmonopol zurückzuerlangen. So wurde die Zeit nach der Demobilisierung der Rebellen-Gruppe nicht nur zur Erlösung, sondern wuchs zu einer Herausforderung.

Im Geburtsland des legendären verstorbenen Drogenbarons Pablo Escobar kämpfen unzählige paramilitärische und kriminelle Gruppen um Macht, Einfluss und Milliarden. Sie drängen in das Vakuum, das durch den Rückzug der FARC entstanden ist, die sich oft in die entlegenen Bergregionen des Landes zurückzog und sich auch über den Drogenhandel und Rohstoffe finanzierte. Nun rittern ehemalige Konkurrenten um den Zugang zu Drogenhandelsrouten und illegalen Goldminen. Das Geschäft hat unter dem Friedensvertrag jedenfalls nicht gelitten: In einem aktuellen Bericht führt die UN-Anti-Drogenbehörde UNODC an, dass die Anbaufläche von Koka-Pflanzen im vergangenen Jahr um 52% gestiegen ist – von rund 96.000 Hektar im Jahr 2015 auf 146.000 Hektar im Jahr 2016. Das aus ihren Blättern gewonnene Kokain überflutet den internationalen Markt, weltweit stammt mehr als die Hälfte aus Kolumbien.

„Es fühlt sich an, als wären wir mit brummendem Schädel nach einer durchfeierten Nacht aufgewacht,“ sagt Esteban Christian Ramirez, wenn man ihn fragt, wie es Kolumbien ein Jahr nach der Ratifizierung des Vertrags geht. Der 32-jährige Professor aus Cali beschäftigt sich für seine Doktorarbeit mit dem kolumbianischen Konflikt und reist oft in die konfliktgeschüttelten Regionen im Südwesten Kolumbiens. Wollte man hier früher von A nach B gelangen, musste man vorab Mittelsmänner davon informieren. Die FARC wollte Bescheid wissen, wer auf den Straßen unterwegs war, ansonsten konnte die Reise gefährlich werden. Denn Guerilleros zu überrumpeln war keine gute Idee. Mehr als 30.000 Menschen wurden seit den 1960er-Jahren von der FARC entführt, mehr als 5,7 Millionen aus ihren Heimatregionen vertrieben. „Zumindest ist die Zivilbevölkerung nicht mehr Zielscheibe im Konflikt,“ sagt Ramirez, der für den Friedensvertrag ist.

Im Oktober 2016 rief der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos zu einem Referendum über den Friedensvertrag, den er mit den FARC-Führern verhandelt hatte. Eine hauchdünne Mehrheit der Kolumbianer antwortete mit Nein. Santos griff zu einem politischen Trick: Er interpretierte die Ablehnung als Auftrag, den Vertrag neu zu verhandeln, änderte ein paar Kleinigkeiten und schloss den Frieden.
Es ist ein sehr emotionales Thema. Es gibt kaum Familien, die im vergangenen halben Jahrhundert niemanden im Konflikt verloren, denen nicht eine Schwester oder ein Sohn entführt wurde. Guevara sagt, er sei vorsichtig, wem er sich als FARC-Mitglied zu erkennen gebe. Viele seiner Kameraden hätten ihre Namen geändert. Fotos aus den alten Tagen gibt er keine weiter.

Er war 17 Jahre alt, als er sich der Gruppe anschloss. Aufgewachsen in Juan Rey, einem der ärmsten Viertel der Acht-Millionen-Stadt Bogotá, sah er keine Alternativen: keine Bildung, keine Arbeit, keine Zukunft. Die meisten Kinder der Nachbarschaft landeten in bewaffneten Gruppen: dem Militär, paramilitärischen Organisationen, kriminellen Banden oder eben den FARC. Der junge Guevara ärgerte sich darüber, dass das Land den Reichen gehörte, dass die Armen nichts hatten, die Ideologie Marxisten war der logische Schluss. „Das Militär wollte den Status Quo verteidigen, Paramilitärs griffen dort ein, wo sich das Militär die Finger nicht schmutzig machen will, den kriminellen Banden ging es um den Drogenhandel. Wir sind die einzigen, die für den politischen Wandel kämpfen“, sagt er.
Im Jahr 2000 zog er in die Berge der Region Cauca, in der sich heute auch das Camp Carlos Patiño befindet. Er brach jeden Kontakt mit seinem alten Leben ab, wollte möglichst weit weg von der Stadt, das „wirkliche Kolumbien“ finden. Sie schliefen in Höhlen oder bauten sich behelfsmäßige Unterschlüpfe und wechselten häufig das Lager.

Nun haben sie ein Dach über dem Kopf, Internet und Strom. Als sie in der Übergangszone ankamen, war es nicht einmal fertig gebaut. Die Essenslieferungen kamen nicht an. Sie werden langsam zu normalen Kolumbianern, die auch deren Sorgen plagen: der ineffiziente Staat, die fehlende Infrastruktur, die Korruption. Auch über solche Probleme rede man nun öfters, seit der Sündenbock der Vergangenheit in die Politik gegangen ist.
„Früher hat man alles den FARC in die Schuhe geschoben“, sagt Politikwissenschafter Esteban. „Heute geht das nicht mehr.“ Ein Beispiel ist eine Tragödie, die sich Anfang Oktober in der Problem-Stadt Tumaco ereignet hat. Als einige Koka-Bauern gegen die gewaltsame Vernichtung ihrer Ernte demonstrierten, eröffnete die Polizei das Feuer. Sechs Bauern starben, 20 weitere wurden schwer verwundet.

Durch Tumaco geht heute der Großteil des kolumbianischen Kokain-Handels. Für die Bauern hier stellt der Anbau von Koka-Pflanzen das einzige Einkommen dar. Zwar bietet die Regierung Ersatzprogramme an, die Felder sollen mit etwa Kaffee oder Kakao bepflanzt werden. Doch viele Bauern haben noch nichts von dem Geld gesehen. Außerdem ist der Einfluss krimineller Gruppen in der Region groß.
Boris Guevara sieht das alles mit Sorge. „Die Regierung muss endlich gegen Paramilitärs und Drogenschmuggler vorgehen. Wir steuern auf einen neuen Bürgerkrieg zu,“ sagt er. „Die Strukturen, die zum Konflikt geführt haben, sind die selben.“ Es gehe noch immer um Landrechte, Bildung, Umverteilung und ausländische Konzerne. Vor allem Kleinbauern und Indigene müssten fürchten, ihren Anspruch auf das Land zu verlieren. Auch deswegen will die FARC weiter Revolution machen, es gäbe viel zu tun.

In einem seiner Videos schwenkt die Kamera auf einen der FARC-Camp-Mitbewohner, der ein paar Pflanzen zur Seite schiebt und den Blick auf einige dunkelgrüne Kürbisse freigibt. So soll es anfangen. „Die Welt hat sich komplett verändert“, sagt Guevara. „Nichts ist mehr wie vor unserer militärischen Zeit. Für viele wird es nicht leicht sein, da einen neuen Platz zu finden.“ Sie könnten sich das Leben in der Stadt nicht mehr vorstellen, den Verkehr, die Computer, das Chaos. Manche von ihnen hätten Jahrzehnte im Dschungel gelebt, nichts von der Welt um sie herum mitbekommen. Auch deswegen gibt es das Camp am Ende der Bergstraße, die nur sehr selten ein Auto hinauffährt: Die Revolutionäre müssen erstmal langsam im 21. Jahrhundert ankommen.

Die Waffen abzugeben sei der einfachste Schritt gewesen, sagt Guevara.

(profil 45, 6. November 2017)