Nur eine kleine Handbewegung braucht Alija Zecic, um die Entwicklung seines Viertels in den vergangenen Jahren zu verdeutlichen: „Das Gallus war hier unten." Er hält seine flache Hand auf Hüfthöhe, dann lässt er sie hoch schnellen, zum Kopf: „Und jetzt ist es hier oben".
Zecic steht auf einem Spielplatz und schubst seinen kleinen Enkel an, der auf der Schaukel sitzt. Der Spielplatz gehört zu einem der vielen neuen Wohnprojekte im Gallus: „Louis am Park". Mehrere Wohnblöcke sind hier auf einem Areal neben den Adlerwerken gebaut worden, mit bodentiefen Fenstern, großen Balkonen und Terrassen, Von einem Park ist weit und breit nichts zu sehen, stattdessen verlaufen hinter den Häusern direkt die Gleise. Vermutlich ist die kleine Grünanlage gemeint, die hier - samt Spielplatz - neu entstanden ist.
Zecic wohnt nicht in einem der Neubauten, sondern gegenüber in einem älteren Wohnblock. Der 62-Jährige kam vor 40 Jahren aus Bosnien nach Frankfurt und landete schnell im Gallus. Das Viertel war billig und man bekam dort auch als Zuwanderer eine Wohnung. Vier Kinder hat er mit seiner Frau hier großgezogen. Allerdings sei das Viertel früher „asozial" gewesen, sagt er. Und damit meine er nicht die verschiedenen Nationalitäten: „Bei uns wohnt immer noch die ganze Welt", sagt er stolz. Aber es habe eben viele Probleme gegeben. Deswegen freut sich Zecic sehr darüber, dass sich das Gallusviertel seit einigen Jahren verändert.
Er hat dadurch vor allem Vorteile: Viele neue Nachbarn, sauberere Straßen, drei zusätzliche Supermärkte in Laufweite. Statt auf den neuen Spielplatz könnte er an diesem Nachmittag auch mit seinem Enkel auf der neugestalteten Frankenallee entlang flanieren, ein Eis im Stadtteilcafé am Quäkerplatz essen oder einen Ausflug ins Europaviertel machen, das durch einen sogenannten „Taschenpark" mit dem Gallus verbunden ist.
Für ihre Vier-Zimmer-Wohnung zahlt die Familie nach wie vor weniger als 900 Euro, bisher besteht kein Anlass, eine Mieterhöhung zu befürchten.
Nur einen guten Kilometer weiter nördlich sieht die Welt ganz anders aus. An der Knorrstraße, die direkt ans Europaviertel grenzt, stehen Robert Stojanoski und Enver Krasniqi zwischen Wohnblöcken aus den 50er-Jahren. Der weitläufige Hof ist eine Baustelle: Bagger rollen dröhnend vorbei und überall sind kleine Schutthaufen aufgetürmt. Die Immobiliengesellschaft Vonovia (ehemals Deutsche Annington, Anmerkung der Redaktion), will die kleine Siedlung, die früher einmal der Bahn gehörte, generalüberholen. Geplant ist, auf den Freiflächen drei neue Wohnhäuser zu errichten. Die restlichen Gebäude sollen zum Teil aufgestockt, mit Aufzügen, Dachterrassen und Balkonen versehen werden. Was erst einmal gut klingt, macht vielen Mietern der 110 Wohnungen Angst. Sie glauben, dass durch die Umbauarbeiten hohe Mietsteigerungen auf sie zukommen, Viele von ihnen sind Geringverdiener und zahlen für ihre Wohnungen noch deutlich unter 10 Euro pro Quadratmeter. Die Durchschnittsmieten in den neuen Häusern sollen bei 13 bis 14 Euro pro Quadratmeter liegen.
Stojanoski und Krasniqi fürchten, dass die Vonovia die Nähe zum Europaviertel nutzen, und langfristig die aktuellen Mieter durch eine wohlhabendere Klientel ersetzen will. Stojanoski zitiert aus einer Presseerklärung der Vonovia, in der das Unternehmen erklärt, mit dem Umbau die „ästhetische Lücke zum Europaviertel schließen" zu wollen. Krasniqi, der seit einem Unfall nicht mehr arbeiten kann, befürchtet, in seinem eigenen Viertel bald als asozial betrachtet zu werden: Er zeigt auf ein Wohnhaus, das hinter der kleinen Siedlung in die Höhe ragt und zum Europaviertel gehört: „Die neuen Bewohner dort ertragen uns schon jetzt nicht mehr, sie haben sich sofort über unsere Satellitenschüsseln beschwert." Stojanoski nickt: „Da treffen einfach zwei Klassen aufeinander."
Das Gallus ist seit 2001 Teil des Programms „Soziale Stadt", mit dem Bund und Länder abgehängte Stadtteile fördern. Eines der Ziele war es, das Aufeinanderprallen dieser zwei „Klassen" „positiv zu nutzen" und „sozialverträglich abzufedern".
Ob das gelingt, ist unklar. Was sich definitiv verändert hat, ist das Image des Viertels. Das haben nicht nur die vielen Menschen gezeigt, die am vergangenen Wochenende bei der Nacht der Museen ins Viertel gepilgert kamen, um die Adlerwerke, die Kultureinrichtungen auf dem Teves-Gelände oder die Galluswarte zu besichtigen. Das bestätigt auch Matthew George, der Schulleiter der Paul-Hindemith-Gesamtschule. Seine Schüler hätten mittlerweile weniger mit dem Stigma der Postleitzahl 60326 zu kämpfen, sagt er. Auch entscheiden sich seit Neuestem mehr Eltern, ihre Kinder auf die Stadtteilschule zu schicken, statt sie auf Gymnasien in der Innenstadt zu schicken. Ob auch die Kinder aus dem Europaviertel im Gallus zur Schule gehen, und so zu einer Mischung der Milieus beitragen werden, kann er noch nicht sagen: „Die meisten Kinder im Europaviertel sind noch im Grundschulalter."
Doch mit dem Imagegewinn steigt die Nachfrage und damit steigen auch die Mieten. Da helfen auch soziale Projekte und schönere Plätze nicht. Zumal nach wie vor ein Teil des Gallusviertels weitgehend von den positiven Seiten des Wandels abgeschnitten ist: Richtung Griesheim, jenseits des Bahndamms, liegen mehrere Wohnviertel, die nicht nur schlecht, an den Rest des Viertels angebunden sind, sondern bislang auch kaum von den Investitionen in Infrastruktur und öffentliche Plätze profitieren.
Robert Stojanoski aus der Knorrstraße glaubt denn auch nicht so richtig daran, dass die Stadt bei der Verschönerung an die bisherigen Bewohner gedacht hat: „Jahrelang wurde hier überhaupt nichts gemacht. Und jetzt, seit die neuen Leute einziehen, geht es plötzlich Schlag auf Schlag."