Am Wochenende feiert Prag das 30. Jubiläum der Ausreise von 6.000 DDR-Flüchtlingen in die Bundesrepublik. Fast vergessen ist heute, dass es gleichzeitig auch in Warschau tausende Flüchtlinge gab – und Polen dadurch eine große Rolle beim Fall der Mauer spielte.
Vollbepackt stellt Walter Brandt den Familien-Wartburg am 8. September 1989 in einer Nebenstraße des Warschauer Botschaftsviertels Saska Kępa ab. Im Gepäck hat er seine Ehefrau Helga, die Söhne André und Tino, einige Koffer und den Wunsch, die DDR endlich hinter sich zu lassen. Doch die alte Heimat lässt sich nicht so schnell abschütteln.
Vor der Warschauer Vertretung der Bundesrepublik Deutschland passt ein fremdes Paar die Familie ab, erinnert sich der damals 18-jährige Tino Brandt 30 Jahre später: "Die haben auf Deutsch gefragt: 'Wollen Sie in die Botschaft? Sollen wir für Sie etwas erledigen in der DDR? Wo kommen Sie denn genau her?' Die waren natürlich von der Staatssicherheit."
Unter falschen Angaben bekommt Tino Brandts Familie ein Urlaubsvisum und steuert die westdeutsche Botschaft in Warschau an. Auch das Stasi-Paar kann sie davon nicht mehr abhalten. "Meine Mutter hat dann praktisch sehr, sehr allergisch reagiert. Sie hat die angebrüllt und die haben einen ganz roten Kopf gekriegt und sind dann weggegangen", sagt Tino Brandt mit einem Schmunzeln. Auch die Macht der DDR zeigt in Warschau bereits ihre Risse.
In der Botschaft werden die Informationen der Brandts aufgenommen und die Familie dann in einem Privathaus in der Nachbarschaft untergebracht, so wie viele hunderte anderer DDR-Bürger. "Das zeigt, dass die Polen helfen wollten", sagt Irena Gutveter, damals Generalsekretärin des Polnischen Roten Kreuzes. Während die Botschaft vor Flüchtlingen überquillt versorgen ihre Mitarbeiter zwischenzeitlich 2.500 Flüchtlinge mit dem Nötigsten: Essen, Kleidung, Informationen.
Hinter den Kulissen verhandelt die Regierung des ersten freigewählten Premierministers Polens, Tadeusz Mazowiecki, derweil mit einer Delegation des westdeutschen Außenministeriums, ebenso wie die Machthaber in Prag. Im Gegensatz zu Polen seien diese jedoch "Betonköpfe" gewesen, resümierte der Delegationsleiter Jürgen Sudhoff bereits beim 25-jährigen Jubiläum der Botschaftsflucht. Warschau hingegen hätte ihm entgegengekommen signalisiert.
Am frühen Morgen des 30. September 1989 fährt der verschlossene Sonderzug mit hunderten Flüchtlingen von Warschau aus Richtung Westen. Doch zuvor muss er noch einmal die DDR passieren, erinnert sich Tino Brandt: "Das war hochemotional. Wir fuhren bei Magdeburg durch Landstriche, wo ich aufgewachsen bin. Da haben dann Leute rechts und links am Bahnsteig gestanden, wo ich mich gefragt habe: 'Sind das Leute, die ich kenne?'"
Auch in Polen löst die Entscheidung zur Ausreise Emotionen aus, so Izabela Gutveter vom polnischen Roten Kreuz: "Wir hatten die Hoffnung, dass, wenn das funktioniert, sich auch in Polen etwas verändern wird." Denn trotz frei gewählter Regierung war Polen weiterhin Teil des Warschauer Paktes und unter direktem Einfluss Moskaus.
Zum 30. Jubiläum des Warschauer Botschaftsflüchtlinge betont er heute noch einmal die Bedeutung dieses Spätsommers: "Das war eine Sternstunde der deutsch-polnischen Beziehungen. Es war ein großartiges menschliches Helfen und Unterstützen der Flüchtlinge, das bis heute Freundschaften begründet hat. Es war, wenn Sie so wollen, eine Investition Polens in die gemeinsame europäische Zukunft."
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL FERNSEHEN | 27. September 2019 | 17:45 Uhr
Zuletzt aktualisiert: 27. September 2019, 11:05 Uhr