In voller Montur öffnet Arijan Kurbasić die Tür: Springerstiefel, grüne Tarnfleck-Uniform, blaue UN-Barett-Mütze. "Schließlich habe ich einen Ruf zu verlieren", sagt er und sein Gesicht zeigt den seltenen Anflug eines Lächelns. Der 27-Jährige ist ein ernster Mensch, sein Leben ist der Krieg - zumindest scheint es so.
Kurbasić betreibt das "War Hostel", die wohl außergewöhnlichste Touristenunterkunft in Sarajevo, der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina. Im ersten Stock dröhnen Aufnahmen von Gewehrsalven durch den düsteren Flur. An der Wand hängen verbogene Überreste sowjetischer Sturmgewehre. Bei Dauerbeschallung und Kerzenlicht können Touristen hier für zehn Euro pro Nacht den Alltag des Krieges erleben.
Geschlafen wird in einem der beiden grauen Räume seitlich des Flurs. Die Fenster sind mit Laken abgehängt, ein Schriftzug warnt vor Scharfschützen. Einfache Matratzen dienen als Lager, darauf liegen Militärdecken. Die Wände sind mit Zeitungsauschnitten aus dem Bosnien-Krieg übersäht. Daneben hat Kurbasić seine eigentliche Agenda gepinselt: "Fuck the War!".
"Eigentlich ist es ein 'Anti-Kriegs-Hostel'. Es geht um die Geschichte der Überlebenden", erklärt Kurbasić. Er und seine Familie gehören selbst dazu. Während der Belagerung Sarajevos harrten sie in Bunkern aus, ihr Haus wurde von Mörsern verwüstet. Kurbasić, Geburtsjahr 1991, war da gerade ein Kleinkind: "Meine ersten Erinnerungen überhaupt sind Bomben, Gestank und verängstigte Menschen."
Zwischen 1992 und 1996 belagerten serbisch-jugoslawische Truppen die Stadt und schnitten sie von der Außenwelt ab. Zuvor hatte sich Bosnien für unabhängig erklärt. Von den Bergen rund um die Stadt hagelte es täglich hunderte Granaten und Artilleriegeschosse. Scharfschützen schossen gezielt auf Zivilisten, schätzungsweise 11.000 Zivilisten starben. Die Vereinten Nationen versorgten die Stadt jahrelang über eine Luftbrücke, auch die Bundeswehr.
Doch selbst eine Schutzzone der UN, die ab dem 6. Mai 1993 galt, konnte den Konflikt nicht beenden. Als die Belagerer 1996 abzogen war Sarajevo ein Trümmerhaufen. Bis heute steht es auch für das Versagen der internationalen Gemeinschaft, das Massensterben inmitten Europas zu beenden.
Eigentlich wollte Arijan Kurbasić diesen Teil der Geschichte hinter sich lassen. Nach einer Tourismus-Ausbildung arbeitete er als Tourguide in der Stadt: "Aber die Leute waren nur am Krieg interessiert. Also habe ich irgendwann gedacht: dann biete ich eben genau das an, was sie wollen". Nach langer Überzeugungsarbeit waren seine Eltern einverstanden mit der Idee des "War Hostels" in ihrem eigenen Wohnhaus.
Kurbasić recherchierte, sammelte Kriegsmaterial, Uniformen und Matratzen. Er druckte Orginalzeitungen nach, die nun an den Wänden hängen und den Krieg nacherzählen. Im Keller richtete er einen Bunker ein, in dem er seinen Besuchern Dokumentationen zeigt. "Es geht um Bildung, die Leute sollen etwas lernen, verstehen, was wir durchlebt haben - meine Familie und alle Bewohner dieser Stadt", erklärt Kurbasić.
"Wir bekommen von den Besuchern so viel positives Feedback für unsere Arbeit und unsere Courage", sagt Kurbasić. Die seien meist Ausländer, vor allem aus englischsprachigen Ländern und der EU. Gäste aus den unmittelbaren Nachbarländern seien hingegen selten: " Die wollen im Urlaub nicht mit dem Krieg konfrontiert werden. Außerdem haben die alle eigene Kriegserfahrungen, die waren vielleicht noch schlimmer."
Doch es seien auch schon Serben und Kroaten gekommen, die gezielt die Auseinandersetzung mit der Geschichte gesucht haben: "Die hatten zum Beispiel die Belagerung von Dubrovnik erlebt und wollten davon erzählen. Wir haben dann lange geredet und Erinnerungen ausgetauscht. Das war sehr konstruktiv für beide Seiten", erinnert sich Kurbasić.
Doch es gebe auch andere Reaktionen. Eine serbische Boulevardzeitung aus Belgrad habe ihn einst ins Visier genommen: "Die schrieben von diesem verrückten widerlichen Ort in Bosnien, der die Opfer beleidigt. Alles wurde als abstoßend und böse beschrieben. Und ich wurde persönlich als muslimischen Bosniaken gelabelt."
Bosniake, Serbe, Kroate: Die Spaltung der Gesellschaft nach ethnischer Zugehörigkeit ist auch 22 Jahre nach dem Ende des Krieges allgegenwärtig und erschwert eine Versöhnung. Auch deswegen lehnt Kurbasić sie ab: "Ich sehe mich einzig als Menschen - und da endet meine Identität auch schon." Mit seinem radikalen Humanismus ist Kurbasić ein Außenseiter in der bosnischen Gesellschaft: "Freunde mache ich mir damit keine."
Vor dem Krieg war Sarajevo eine einzigartige Stadt, ein "Melting Pot" aus Ost und West, hier traf osmanische auf österreichische Kultur. Muslime, Christen und Juden lebten jahrhundertelang überwiegend friedlich mit- oder zumindest nebeneinander. Der Krieg zerstörte auch dieses Miteinander der Kulturen. Doch 22 Jahre später blüht es langsam wieder auf.
Die Altstadt mit ihrem orientalischen Basar und ihrer habsburgischen Architektur wurde bereits auf Hochglanz renoviert. Touristen flanieren zwischen Mokkaständen und Shisha-Bars durch die verwinkelten Gassen, Hobbyfotografen knipsen an jeder Ecke die malerische Szenerie aus Läden, Minaretten und waldüberzogenen Bergketten im Hintergrund.
"Zuckerguss" nennt Kurbasić das, ein idealisiertes Bild des echten Sarajevo. Das sei immer noch geprägt vom Krieg, auch touristisch. "Belagerungsmuseum, Srebrenica-Museum, die geheimen Versorgungstunnel aus Zeiten der Belagerung - alles ist auf 'Kriegstourismus' ausgelegt", kritisiert der Jungunternehmer, der weiß, dass er selbst davon lebt: "Ja, das zieht die Touristen an, aber wir sollten ihnen viel mehr zeigen."
Sarajevo hat die Anlagen dazu. Die umliegenden Berge wintersporttauglich, 1984 fanden hier die Olympischen Winterspiele statt. Doch auch die Anlagen wurden während des Krieges zerstört. Es gäbe aber wohl Pläne, die Skiressorts wiederzubeleben. "Ich höre ständig von solchen Projekten", sagt Kurbasić: "Aber die Stadt kann sich nicht entscheiden, welche sie zuerst realisieren will. Zumindest gibt es jetzt die Seilbahn."
Die beginnt direkt hinter dem "War Hostel" und verbindet die Unterstadt mit dem Hausberg Trebević. Nach ihrer Eröffnung 1959 war sie das Wahrzeichen der Stadt, bis sie im Krieg zerstört wurde. Am 6. April, auf den Tag genau 26 Jahre nach Kriegsbeginn, wurde sie wiedereröffnet - ein Zeichen des Friedens und Neuanfangs.
"Ich selbst will da nicht hoch", sagt Arijan Kurbasić und blickt vor dem Hostel stehend hinauf auf die Seilbahn: "Da gibt es nix für mich zu sehen". Wo die Bergstation nun wieder Touristen empfängt, standen einst die Geschütze der Belagerer. Kurbasić hat die Uniform bereits gegen ein blaues Shirt und Sporthose getauscht. "Das andere trage ich nur im Hostel, für die Gäste. Im echten Leben will ich nix mit dem Krieg zu tun haben. Aber er hält meine Familie eben am Leben."
Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im: TV | 28.04.2017 | 17:45 Uhr
Zuletzt aktualisiert: 07. Mai 2018, 10:55 Uhr