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Freiheitsindex: „Für Populisten wird das Klima in Deutschland rauer" - WELT

Wie frei fühlen sich die Deutschen im Wahlkampfjahr 2017? Dieser Frage ist das John-Stuart-Mill-Institut gemeinsam mit dem Institut für Demoskopie Allensbach und dem Medieninstitut Dortmund MCT durch Befragung von 1457 Bürgern nachgegangen. Der klare Befund des aus der Untersuchung entstandenen Freiheitsindex: Seit Messungsbeginn im Jahr 2011 war der Abstand zwischen jenen, die Freiheit befürworten, und jenen, die für Gleichheit votieren, noch nie so groß. 51 Prozent der befragten Deutschen würden sich für die Freiheit entscheiden, wenn sie denn müssten. Für die Gleichheit plädieren lediglich 38 Prozent. „Zu Alarmismus und Hysterie besteht keinerlei Anlass mehr", schreiben die Forscher.

Außerdem konnten sich die Befragten auch zu Debatten über Gesetze äußern, die ihre Freiheit eventuell eingeschränkt haben. So erwarten 85 Prozent der Befragten weiterhin vom Gesetzgeber, dass der harte Drogen wie Heroin und Kokain verbietet. Bei sogenannten weichen Drogen (Haschisch, Marihuana) sind es lediglich 38 Prozent.

Während sich jeder Zweite ein Verbot von Filmen, Videos und Computerspielen mit brutalen Gewaltdarstellungen wünscht, will es beim Thema Pornografie nur jeder Vierte. Und wenn es um den Verkauf von hochprozentigem Alkohol, ein Tempolimit auf Autobahnen oder das Verbot der Sterbehilfe geht - weit weniger als jeder Fünfte möchte bei diesen Themen vom Staat gegängelt werden.

Sich frei äußern zu können, auch wenn man eine Minderheitsmeinung vertritt, ist eng mit dem Freiheitsgefühl verknüpft. Und das geht laut Umfrage in Deutschland erstaunlich gut. Rund 63 Prozent der Befragten glauben, ihre Meinung frei artikulieren zu können. Offenbar hat das auch Einfluss auf das subjektive Freiheitsempfinden der Befragten, denn jeder Zweite bewertet sein Leben gegenwärtig als „frei". Was ein Rekordwert ist.

In den Jahren zuvor war die Zustimmung gesunken, einen deutlichen Knick in der Freiheitskurve gab es beispielsweise im Jahr 2016 - offensichtlich eine Folge der massiven Zuwanderung und der Debatte darüber. „Wir haben die vergangenen Jahre eine beunruhigende Abwärtstendenz verzeichnet mit einem Tiefpunkt während der Flüchtlingskrise, die für ein angespanntes gesellschaftliches Klima sorgte", sagt Ulrike Ackermann, Leiterin des John-Stuart-Mill-Instituts. Es sei daher sehr erfreulich, dass das Vertrauen in die Freiheit der politischen Meinungsäußerung wieder wachse.

„Verächtlichmachung der Politik ist bedenklich"

Ist damit alles in Ordnung? Mitnichten, warnen die Forscher. Selbst wenn die Befragten es begrüßen, auch Unliebsames aussprechen zu können, lauere darin gleichzeitig eine Gefahr. „Die deutliche Zunahme der Verächtlichmachung der Politik ist bedenklich", sagt Ackermann. Sie bezieht sich darauf, dass 39 Prozent der Befragten glauben, Politiker hätten keine Ahnung, und die Meinung vertreten: „Das könnte ich sogar besser machen."

Besonders Anhänger der AfD sind davon überzeugt (64 Prozent), doch auch unter den Wählern der Linken ist die Ansicht weit verbreitet (50 Prozent). Bei den übrigen Parteien, die voraussichtlich nach der Wahl im Bundestag vertreten sein werden, bewegt sich der Wert unter dem Durchschnitt. Ackermann konstatiert: „Das Misstrauen in die Akteure der politischen Klasse ist groß."

Groß scheint aber auch die Angst vor der Zukunft zu sein. Seit der Freiheitsindex erhoben wird, haben nie so viele Befragte die Erwartung geäußert, dass Deutschland auf eine „ganz große Krise" zusteuere. Fast jeder Zweite fürchtet sogar eine bevorstehende Katastrophe. Daran lasse sich nur mit einer grundlegenden Veränderung des politischen Systems etwas ändern.

Worauf lässt sich diese Verunsicherung zurückführen? Auch darauf versucht die Untersuchung eine Antwort zu finden. Immer mehr Menschen teilen demnach die These, dass Politiker weniger den Wählern, sondern Partikularinteressen dienen. 43 Prozent der Befragten äußern sich entsprechend. Und so glaubt nur jeder Vierte daran, dass sich die Politik überhaupt für die Sorgen der Bürger interessiert.

Noch stärker ist das Misstrauen gegenüber Spitzenkräften der Wirtschaft. Ihnen vertraut nur jeder Zehnte. Den Journalisten vertrauen immerhin 33 Prozent der Befragten. „Skepsis und mangelndes Vertrauen in die Elite sind nicht nur an den rechten und linken Rändern der Gesellschaft zu beobachten, sondern reichen weit hinein in die bürgerliche Mitte", sagt Ackermann.

Und dennoch sprechen die Forscher von einer „Trendwende". Der Höhepunkt des Misstrauens gegenüber Institutionen und der Politikverachtung seien überschritten, auch der Ruf nach Veränderung des politischen Systems sei leiser geworden.

Die Zahl derjenigen, die über den Bundestag eine „gute Meinung" haben, wächst seit 2005 - im vergangenen Jahr war dies besonders stark der Fall. Mit 39 Prozent der Befragten war die Quote derjenigen, die ein positives Bild zeichnen, noch nie so hoch. Die Erkenntnis von Thomas Peter vom Institut für Demoskopie Allensbach: „Für populistische Parteien wird das Klima in Deutschland langsam, aber sicher rauer."

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