Emmelie Ödén

Freie Journalistin, Neustadt an der Weinstraße

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Artikel

Stille Heimat: Wie sich mein Schweden verändert hat

Kanelbullar, Badeseen und weiße Weihnachten - unbeschwerte Kindheitstage im Ferienhaus ihrer Familie beherrschen die Kindheitserinnerungen von Gastautorin Emmelie Öden an Schweden. Später wurde ihr jedoch klar, dass es auch ein Ort dunkler Familiengeheimnisse war, die unter dem Mantel des Schweigens lagen.


Wenn ich von Schweden erzählen will, erzähle ich unweigerlich eine Kindheitsgeschichte, Bullerbü-Episoden. Unser Ferienhaus drängt sich in meinen Kopf, wo an zukommen sich nach Freiheit angefühlt hat. Den achtstündigen Weg von Bremen bis Småland nahmen wir fast jeden Sommer und Winter auf uns, um hier Familienurlaub zu machen. Meine Mutter wuchs weiter nördlich auf, doch meine Großmutter lebte mittlerweile in Småland und unser Ferienhaus lag nicht weit von ihr. Oft war die Sonne bereits untergegangen, wenn wir in den Ort hineinfuhren. Ruggstorp. Wie das in meinen Ohren klingt! Nach Heimat und Ferne zugleich. Wir stimmten alle in ein gemeinsames Freudenlied ein, sobald wir das Ortsschild erblickten: Wir, das waren meine Mutter, meine beiden Schwestern und ich. Mein Vater saß währenddessen stumm am Steuer. Was wir gesungen haben, weiß ich nicht. Möglicherweise bloß Ruggstorp, rhythmisch und laut, als würden wir unseren Vater anfeuern, dass er den dunkelgrünen Opel Astra endlich auf unser Grundstück lenkt.


Über den Schotterplatz, vorbei an Scheune und Schuppen, ein Stück über die Wiese, bis wir schließlich vor dem Haus hielten. Dunkelrot gestrichene Holzlatten ragen senkrecht vom Natursteinfundament hinauf. Den mittigen Eingang rahmt eine kleine Veranda mit zwei Bänken und einem Giebeldach. Das Haus hatten meine Eltern gemeinsam mit meinem Onkel und meiner Tante gekauft. Für meine Mutter und ihren Bruder war Schweden Heimat, obwohl beide den Großteil ihres Lebens in Deutschland verbrachten. Meine Großmutter ist Deutsche, heiratete in den 1960er Jahren einen Schweden und bekam zwei Kinder mit ihm. Er starb, als meine Mutter sechs Jahre alt war. Zu dritt zogen sie nach Deutschland. Jahre später heiratete meine Großmutter erneut, bekam zwei weitere Söhne mit ihm, und zog mit allen wieder nach Schweden. Nur meine Mutter blieb in Deutschland. Sie war an ihrem 18. Geburtstag ausgezogen, um den Schikanen ihres Stiefvaters zu entkommen. Den letzten Teil erzählte sie mir an meinem 18. Geburtstag, doch über die Details wollte niemand sprechen.


Wir stiegen aus dem Auto aus, rannten über die Wiese und die Treppen der Veranda hinauf. Endlich betraten wir das Haus, dieses große, große Haus mit seinen vielen Zimmern und Türen, mit dem Geruch von Textilien, die lange nicht gewaschen worden sind, und seinen antiken Möbeln, die meine Mutter auf ländlichen Auktionen ersteigert hatte. Ich erinnere mich besonders gut an die Küchenbank, die sich aufklappen ließ. Unsere Mutter erklärte uns, dass darin früher die Mägde schliefen. Wenn sie abends ihre Arbeit erledigt hatten, klappten sie die Sitzfläche hoch, im Innenraum war ihr Bettzeug verstaut und legten sich hinein. Damals stellte ich es mir unheimlich gemütlich vor, sich in diese Holzkiste zu verkriechen. Ich testete sie jedoch nie, wir schliefen stattdessen in Betten in einem der vier Schlafzimmer. Vorher zündete mein Vater, zumindest im Winter, oben im Wohnzimmer den Kamin an. Dann schauten wir hinaus aus dem Fenster in die weiße Landschaft, die jedes Geräusch in sich verschluckt.


Die Einsamkeit in Ruggstorp machte mir manchmal Angst. Unser belebtes Wohnviertel tauschten wir in den Ferien ein gegen die weite Stille Smålands. Lange Zeit gruselte mich das Schweigen der Wälder mehr als Junkies in unserem Viertel. Man wusste wenigstens, dass sie da waren, aber was im Wald war, wusste ich nicht. Wir hatten auch Nachbarn in Ruggstorp, doch ich erinnere mich an kaum eine Begegnung und kein einziges Gesicht.


Meine Großmutter lebt, solange ich denken kann, einige Kilometer von Ruggstorp in einem alten Holzhaus am Waldrand. Von ihrem zweiten Mann hat sie sich scheiden lassen, ich lernte ihn niemals kennen. Ich glaube, deshalb blieb Schweden für meine Mutter die Erinnerung an ihre frühe Kindheit. Die Erinnerung an ihren Vater, der ihr so früh genommen wurde, und über dessen Verlust man sie lange nicht aufklärte: Er sei auf Reisen, hieß es. Bis er starb, waren es sorglose Jahre, in denen ihr Vater Geschichten vorlas und sie mit dem Bruder die saubere Sonntagskleidung im Matsch verschmutzte. Als sei Schweden der Teil ihres Selbst, der noch nicht verlassen, belogen und bedrängt worden ist. Und diese Leichtigkeit spürte ich als Kind jedes Mal, wenn wir dort waren. Es fühlte sich immer wie Heimkommen an. Schweden war mein Sehnsuchtsort, wo alles in Ordnung war. Hier konnten wir auf dem Schoß unseres Vaters das Auto lenken, auf Strohballen klettern und Blaubeeren für den Blåbärspaj sammeln. Wir liebten Schweden und das durften wir auch: Die schwedische Flagge hissen, die schwedische Königsfamilie anhimmeln und stolz verkünden, dass man ein bisschen schwedisch ist!


Heute habe ich nicht nur den kindlichen Nationalstolz und jede Sympathie für die Aristokratie verloren. Auch das Gefühl von Leichtigkeit ist verschwunden, wenn ich an Schweden denke. Weil ich heute die Biografie meiner Mutter kenne, zumindest einen Teil davon, ist Schweden für mich zu dem Ort geworden, der eine schmerzliche Familiengeschichte beheimatet, doch nie davon erzählt. Wo rote Holzhäuser und Blaubeerkuchen einen vergessen lassen, worüber in der Familie nicht gesprochen wird.

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