Elisabeth Werder

Freie Journalistin & Texterin, Diespeck

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So sieht die Zukunft des Wohnens aus


Wie wollen Menschen zukünftig wohnen? Wie kann man diese Wünsche und Träume auf nachhaltige Art und Weise umsetzen? Welche beruflichen Herausforderungen und Chancen gehen damit für die Branche einher? Eine Bestandsaufnahme.

Text: Elisabeth Werder

BU: Prof. Christa Reicher beobachtet seit über 25 Jahren die Themen Stadtentwicklung und Städtebau (Foto: privat).

Die Wohnungsfrage, also die mangelnde Versorgung breiter Bevölkerungsschichten mit bezahlbarem Wohnraum, ist in den letzten Jahren wieder vermehrt Gegenstand politischer und gesellschaftlicher Debatten. Die Architektin, Stadtplanerin und Wissenschaftlerin Prof. Christa Reicher hat vor 20 Jahren ein eigenes Planungsbüro gegründet und beobachtet die Entwicklungen seitdem gleichermaßen aus praktischer und theoretischer Sicht. „Das Thema Wohnungsbau war bei der Gründung der Schwerpunkt unseres Büros, wir hatten einen Wohnungsbauwettbewerb zum Thema „Gemeinsam Wohnen von Jung und Alt“ gewonnen. Das war eines der ersten innovativen Wohnungsbauprojekte in Aachen: Wir konzipierten offene, flexible und gemeinschaftlich nutzbare Grundrisse“, erklärt sie. In den darauffolgenden Jahren kam der Wohnungsbau aus verschiedenen Gründen fast völlig zum Erliegen.

Wohnungsbau-Boom

In den letzten zehn Jahren ist das Thema wieder aktuell geworden. „Areale, die vorher als zu kompliziert für eine städtebauliche Entwicklung angesehen wurden, wie zum Beispiel an lärmbelasteten Straßen und Schienen, werden jetzt doch ins Auge gefasst. Es gibt derzeit jede Menge an Wettbewerben für Quartiersentwicklung und Ersatzwohnbauten“, sagt Reicher. Beim Wohnen der Zukunft spielt vor allem das Thema des Quartiers, also des Wohnens in einem größeren räumlichen Kontext, eine zunehmend wichtigere Rolle. „In den seltensten Fällen geht es nur um die Wohnung oder das Wohnhaus, sondern immer auch um den Zusammenhalt, die Nachbarschaft und die Qualitäten des räumlichen Umfelds.  Und der Übergang vom Innen- zum Außenraum spielt eine zentrale Rolle und bestimmt letzten Endes die Wohnqualität.“

Ihrer Einschätzung nach dominieren künftig drei große Themenblöcke: Komfort, Community und Flexibilität. „Mit Komfort ist nicht der vergoldete Wasserhahn gemeint, sondern der unmittelbare Zutritt aus der Wohnung in einen Freiraum, zum Beispiel auf einen Balkon, auf eine Terrasse oder in einen Garten. Diese Forderung, keine Wohnungen mehr ohne unmittelbaren Freiraumbezug zu bauen, wird vor allem im Kontext von Corona immer lauter“, erklärt sie.

Komfort, Community und Flexibilität

Das Thema Community bezieht sich auf Bereiche, die man gemeinschaftlich nutzen kann. Das können zum Beispiel Gemeinschaftsräume, Dachgärten oder ein gemeinsamer Nutzgarten sein. „Obwohl die Wohnung selbst nicht größer wird, gewinnt man etwas durch die gemeinschaftliche Nutzung von verschiedenen Räumen und kann dadurch sehr flächenökonomische Konzepte entwickeln, die bezahlbar sind und einen großen Wohnkomfort bieten“, sagt Reicher.

Mit Flexibilität ist gemeint, dass Wohnungen und Wohnhäuser heute anders genutzt werden als noch vor 20 Jahren. „Klassische Grundrisse mit Kinder-, Schlaf- und Wohnzimmer haben eher ausgedient. Eine Wohnung ist heute nicht mehr nur Wohn- und Aufenthaltsraum, sondern zum Beispiel auch eine Home-Office-Stätte“, erklärt sie.

Fortschrittliche Städte

Reicher hat sechs Jahre lang als Vorsitzende des Beirates die Entwicklung der neuen Seestadt Aspern in Wien begleiten können. Dort hat vor allem die Begrünung von Wohnungen, Dachflächen und Fassaden eine große Rolle gespielt. Aber auch die Mehrfachnutzung von Gebäuden, also eine vertikale Nutzungsmischung aus Kultur, Büros, Gewerbe und Wohnen war ein großes Thema. Und selbst aus der Notwendigkeit, Stellplätzen unterzubringen ist eine sog. „Kulturgarage“ entwickelt worden, die kurz- und langfristig unterschiedliche Nutzungen vereint.

Ein anderes Beispiel für äußerst innovativen Wohnungsbau ist das WoHo (Wohnhochhaus) in Berlin Kreuzberg. Als Juryvorsitzende konnte sie dazu beitragen, dass in Berlin zwischen Anhalter Bahnhof, Tempodrom und Kanal ein nachhaltiges Wohnhochhaus entsteht, das in den Sockelgeschossen gemeinschaftliche Nutzungen für den Kiez, eine Kita, Allemenderäume, eine Werkstatt und vieles mehr vorsieht; also eine „Berliner Mischung“ in der Vertikalen. Zudem ist das WoHo in einer nachhaltigen Bauweise als Holzhybrid-Wohnhaus mit begrünten Fassaden und Dachflächen geplant. Innovativ also in der Programmierung und in der Bauweise.

Hochhäuser im Trend

Es überrascht Reicher nicht wirklich, dass gerade in Metropolen wie Wien, Zürich, Berlin oder Düsseldorf derzeit innovative Konzepte im Wohnungsbau und in der Quartiersentwicklung zunehmend propagiert und umgesetzt werden – von der außergewöhnlichen Konzeption „Mehr als Wohnen“ bis hin zu gemeinschaftlich genutzten Flächen. „Möglicherweise liegt es daran, dass die Metropolen zunehmend unter Druck geraten, die Flächen zur Nachverdichtung und zur Schaffung von Wohnraum knapper werden. So erklärt sich auch der jüngste Trend zum Wohnen im Hochhaus.

Es ist aber nicht die Großwohnsiedlung, die wir aus den 1970er Jahren bereits kennen, sondern es sind Mischkonzepte in Hochhäusern. Diese sind gerade up to date“, sagt sie „Aus zweierlei Gründen: Zum einen minimieren Mischnutzungen - auch in Hochhäusern – die Gefahr des Leerstandes und zum anderen versprechen sie Urbanität und einen sozialen und nachhaltigen Mehrwert für das umgebende Quartier. Das neue Wohnhaushoch ist also nicht eine Variation der Bautypologien aus der Boomzeit der 1970er und 1980er Jahre, sondern verspricht Integration in den städtischen Kontext und eine positive Impulswirkung für die Nachbarschaft.

Potenzielle Arbeitgeber*innen

Im Bereich Wohnungsbau wird zunehmend das interdisziplinäre Arbeiten relevant. Große Immobilienentwickler haben lange keinen klassischen Wohnungsbau mehr umgesetzt, aber realisieren jetzt große Quartiersprojekte und ganze Stadtteile. Es werden vielfach Entwicklungsgesellschaften gegründet, um innovative Wohnprojekte mit einem ambitionierten Anspruch zu realisieren. Viele Stiftungen und privatwirtschaftlich oder gemeinwohlorientierte Institutionen, Organisationen und Kommunen setzen sich mit Fragen des Wohnens auseinander.

Auch für die Wissenschaft wird das Thema zunehmend interessanter: Vor allem Themen wie Nutzungsmischung, Modelle des Wohnens und Arbeitens und der sozialen Versorgung sowie das Bauen mit nachhaltigen Rohstoffen sind Gegenstand aktueller Forschungsarbeiten. Aus einem nahezu schlummernden Thema ist jetzt wieder eine aktuelle Debatte über das Wohnen und Arbeiten im Quartier und damit über die vielfältigen Möglichkeiten einer so wichtigen Herausforderung geworden.


Hinweis: Im Herbst erscheint das Buch „Stadtbaustein Wohnen“ im Springer-Verlag. Darin führt Christa Reicher weitere Gedanken und Erkenntnisse zum Wohnen der Zukunft aus.