"Stranger Things"-Nachfolger auf Netflix Wut als Superkraft
Pubertäts-Vorhölle Kleinstadt: Die "Stranger Things"-Macher erzählen in "I Am Not Okay With This" erneut rasend unterhaltsam von den übermenschlichen Kräften sehr menschlicher Teens.
Elisa von Hof
Sid hat ein echtes Problem. Nicht, dass sie in diesem schrecklichen Kaff in Pennsylvania lebt, wo im Jahr 2020 alles nach Achtzigern aussieht. Auch nicht die Pubertät, die sie fest im Griff hat und nicht gerade für aufgeräumte Verhältnisse sorgt, weder innen noch außen. Noch ihre Mutter, die sie nicht versteht und ziemlich häufig allein lässt. Was für die 17-Jährige wirklich zum Problem wird, ist etwas anderes: ihre telekinetische Kraft.
Sid (Sophia Lillis) ist davon nicht weniger überrascht, als es jeder andere Teenager wäre, der plötzlich Regale umkippen ließe oder Kulis zum Schweben brächte. Sie macht das ja auch nicht vorsätzlich. Sid, die stets in Dr. Martens und großem Pulli durch ihre Kleinstadt schlurft, die Hände eingehakt in die Henkel ihres Rucksacks, bringt die Welt nur zum Beben, wenn sie wütend wird. Leider passiert ihr das in letzter Zeit nicht gerade selten. Nach Sids Lebenseinstellung hat Showrunner Jonathan Entwistle gleich die ganze Serie getauft, die nun bei Netflix zu sehen ist: "I Am Not Okay With This".
Nach Entwistles letztem Erfolg, der Teenager-Serie " The End of The F*ing World", war es nicht sehr überraschend, dass Netflix den Regisseur nicht so schnell gehen lassen würde. Zynisch und gleichzeitig sensibel über das Ringen mit dem Erwachsenwerden zu erzählen, das liegt ihm offensichtlich. Ging es bei "The End of The F*ing World", genau wie "I Am Not Okay With This" auf einem Comic von Charles Forsman basierend, um einen Teenager mit psychopathischen Zügen, steht dieses Mal eine Jugendliche mit einer ausgewachsenen Aggressionsstörung im Mittelpunkt des siebenteiligen Coming-of-Age-Dramas.
Sid hat sich in ihre beste Freundin Dina (Sofia Bryant) verknallt. Leider hat Dina aber einen ziemlich dümmlichen Sportlerfreund, der sie viel küsst und oft "Babe" nennt. Macht Sid das wütend, bringt sie seine Nase zum Bluten. Vermisst sie ihren Vater, der sich vor einem Jahr umgebracht hat, scheinbar ohne Vorzeichen und Abschiedsnotiz, bringt sie die Wand ihres Zimmers zum Bersten.
Scham, Wut, Angst - Gefühle also, die sonst nur das eigene Herz zerspringen lassen und für die Außenwelt unsichtbar sind, katapultiert Sid nach außen. Die Schmerzen des Erwachsenwerdens und die Traumata eines noch jungen Lebens hat Entwistle in eindrucksvolle Bilder verwandelt. Als Sid etwa ihre Freundin Dina küsst, diese aber zurückweicht, pflügt Sid mit einem Schrei einen halben Wald um. Sehr eindrücklich stehen die traurig umgeknickten Tannen für die Verzweiflung und den Frust, den Sid verspürt.
Überhaupt: Wie Sophia Lillis die queere Teenagerin spielt, die sich klischeehaften Genderzuschreibungen so beständig entzieht wie enger Kleidung, ist ziemlich großartig. Sowieso hat Entwistle ein tolles Ensemble zusammengestellt, das in seiner Diversität an "Sex Education" erinnert. Und wie in der Netflix-Schwesterserie verliebt man sich auch hier schnell in den Sidekick, in diesem Fall Sids Freund Stan (Wyatt Oleff). Weil er sich den heteronormativen Maskulinitätskonzepten der Highschool-Footballer verwehrt und mit seiner puren Lebensfreude sogar Sid zum Lachen bringt.
Mit angezogenen Schultern lässt Lillis das verängstigte Mädchen durch die Kleinstadt schleichen, jederzeit bereit zum Ducken vor der eigenen Kraft. Irgendwann aber nicht mehr vor ihrer Sexualität. So wird diese Coming-of-Age-Geschichte auch zu einer Coming-out-Geschichte, in der Science-Fiction auf Highschool, Fantasy auf Kleinstadttristesse trifft. Wen das an " Stranger Things" erinnert, liegt nicht falsch: Für beide Serien sind die Duffer-Brothers als Produzenten verantwortlich.
Damit sie ihre Aggressionsstörung in den Griff bekommt - auch ohne telekinetische Kraft tritt Sid Mülltonnen um und zerbricht Bleistifte - schenkt die Schul-Vertrauenslehrerin ihr in der ersten Serienepisode ein Tagebuch. Darin soll die Schülerin festhalten, was sie beschäftigt. In Sids Fall: die Liebe zur besten Freundin, ihr plötzlicher Verlust des Vaters, ihre übernatürliche Kraft.
Damit wird auch für "I Am Not Okay With This" die alte Tschechow-Regel in Gang gesetzt: Ein Revolver, der gezeigt wird, muss abgefeuert - und in diesem Fall ein geheimes Tagebuch gefunden werden. Das dramatische Potenzial dieser Serie ist also riesig: Wie eine Wiedergängerin von Stephen Kings " Carrie" stolpert Sid gleich anfangs blutverschmiert durch die Kleinstadt. Die Kids lernen vielleicht langsam immer besser, mehr zu sich und ihren Gefühlen zu stehen. Aber alright sind sie noch lange nicht.