Jaime Candau entscheidet sich fürs Schreien. Seine Stimme schallt aus den Lautsprechern im vollen Hörsaal der Humboldt-Universität in Berlin. Alle gucken nach vorn, beobachten ihn, wie er auf und ab läuft, in die Hände schlägt, mit dem Finger aufs Publikum und auf die Leinwand hinter ihm zeigt. Wie er sich abmüht im Kampf um fünf Minuten Aufmerksamkeit für sich und sein Start-up. Denn statt Studierender sitzen heute Investoren und Business Angels im Publikum, die Geld investieren wollen - in Candaus oder in eines der 25 anderen Start-ups. Während des Pitch Marathon auf dem diesjährigen Start-up Camp treten sie im Minutentakt gegeneinander an.
Stunden davor: Das Start-up Camp des Bundesverbands Deutsche Startups, ein Branchentreff für Gründer und Investoren, läuft langsam an. Dass etwa 1000 Tickets verkauft wurden, merkt man um 9.30 Uhr, als sich der Berliner Campus nur langsam füllt, nicht. Mit dampfenden Kaffeebechern trottet man zum Audimax, hier und da wird die erste Visitenkarte aus der Hosentasche genestelt. Candau und sein Mitbegründer Ben Ickenroth sind noch nicht da, aber längst wach. Seit sieben Uhr sind sie auf den Beinen, haben noch zwei Meetings, ehe es zum Start-up Camp geht.
Sie verpassen die ersten Vorträge - etwa vom Gründungsexperten Patrick Stähler („Wir sollten nicht in hippen Produkten denken, sondern die Probleme der Verbraucher lösen"), der sich ärgert, dass seine Präsentation nicht abgespielt werden kann. Es ist das Erste einer Reihe von Technikproblemen, die im Laufe des Tages immer mal wieder auftreten. „Es ist eben ein Start-up-Event", wird hier und da ironisch kommentiert.
Neben dem Pitch Marathon geben Gründungsexperten wie die Fernseh-Löwen Carsten Maschmeyer und Frank Thelen in Vorträgen und Paneldiskussionen Tipps. Da geht es um allerlei Spezielles wie Fintech, Wanderdarlehen, Crowdfunding, Guerillamarketing. Aber auch um die Zauberformel, wie man es bloß schafft, erfolgreich zu sein. Den eigenen Interessen folgen oder auf die der Kunden hören? Sich an einfache Ideen halten oder lieber Bestehende verbessern? Auf dem Podium gehen die Meinungen auseinander. TV-Investor Frank Thelen gibt den Hinweis: „Science the shit out of your Startup, um 10 mal besser als die Konkurrenz zu sein", der 7-fache Gründer Claude Ritter meint: „Fokussier dich auf ein Ziel und hab immer einen Plan, sonst sagen dir deine Investoren, was du tun sollst". Geht es auf der Bühne um die nächste große Idee, hört man immer mal wieder jemanden zum Nebenmann flüstern: „Das sind die FinTech-Jungs, die räumen jetzt so richtig ab."
Zurück beim Pitch Marathon: Da steigt die Nervosität bei den 26 Gründern. Candau und Ickenroth sind jetzt da. Zwanzig Minuten vor ihrem Pitch beugen sie sich noch über ihren Laptop, schnell noch was an der Präsentation ändern. Dann geht es los. Candau sagt später, sein Herz habe wie wild gehämmert. Davon merkt man nichts, als er wie ein Auktionator sein eigenes Produkt anpreist: BAGmovies, eine Art Social-Media Plattform für Filme und Serien. „Ihr habt zu wenig Zeit, um euch Mist anzugucken. Daher braucht ihr uns“, schreit er.
Nach knappen fünf Minuten ist sein Auftritt vorbei. Ein rascher Applaus und schon steht der Nächste auf der Bühne, um für seine Idee zu trommeln. Candau ist erschöpft. Ob sein Pitch gut ankam, wird er erst später merken. Investoren und Business Angels halten Karten in den Händen, auf die Geldsummen gedruckt sind – 50.000 Euro oder 200.000 Euro etwa. Es sind fiktive Investitionen, die ihr Interesse an einem Start-up zeigen sollen. Im Laufe des Tages übergeben sie die Karten an ihre Favoriten aus dem Pitch Marathon. Wer das meiste Papp-Geld gesammelt hat, hat den Wettbewerb für sich entschieden.
Auch für Sebastian Hof, Jennifer Moseler und David Poetzsch-Hefter wird es ernst. Sie sind extra aus dem Saarland nach Berlin gekommen, um ihr Start-up Hireme vorzustellen. Für Hof, der pitchen wird, ist es das erste Mal auf Englisch, das erste Mal in der Gründerszene Berlins. „Das ist schon eine andere Dimension als bei uns im Saarland“, sagt er, er sei nervös. Die drei suchen einen strategischen Investor, der bereit ist, 500.000 Euro in ihr Start-up, eine Jobplattform für Studenten, zu investieren. Bisher sind dort nämlich nur Jobs im Saarland verfügbar, aber das soll sich mit Hilfe des Investors ändern. Die Chancen dafür stehen gut, denn der Pitch läuft rund. Hof spricht konzentriert, klickt alle Folien durch, kommt in der fünften Minute pünktlich zum Schluss. Er sei zufrieden, sagt er später grinsend. Und bekommt in der nächsten Pause ein paar Karten von Investoren zugesteckt.
Business Angel Rainer Ammel gehört nicht dazu. Er interessiert sich nur für Start-ups, die mit Bildung zu tun haben. Um ein solches hier zu finden, ist er extra aus München angereist. Aber die Suche verläuft stockend. Das Start-up-Angebot reicht schließlich vom Designthermostat für die Heizung zur Konsole für Smartphones, über eine Software für Roboter-Journalismus zum Businessreisenanbieter. Mit Bildung haben nicht viele zu tun. „Aber ein Start-up ist mir doch aufgefallen, das mich interessiert, das ist Edkimo“, sagt Ammel.
Mit dieser App können Lehrer ihre Schüler über ihren Unterricht befragen – unmittelbar und anonym. Ammel saß wenige Minuten zuvor im Publikum, als Sebastian Maack das Start-up vorgestellt hat. Er hat gehört, wie Maack von den eigenen Erfahrungen als Lehrer berichtete und wie er die App im Unterricht selbst testete.
Er hat gesehen, wie Maack nach fünf Minuten Reden die braunen Locken zu Berge standen und wie begeistert er vom veränderten Unterricht mit der App gesprochen hat. Es gab Applaus, auch von Ammel. In der Pause sieht man ihn mit dem Gründer sprechen. Eine Geldkarte gibt er aber dennoch nicht. „Später vielleicht“, sagt Ammel. Ihm rauche vom Marathon gerade einfach der Kopf.
In den Pausen trinkt man zusammen Fritzcola und erwischt sich dabei, ganz verstohlen auf das Namensschild des Gegenübers schielen. Steht da etwa ein potenzieller Investor? Oder nur ein anderer Gründer, der auch nach Investoren Ausschau hält? Carsten Maschmeyer ist der Einzige, den man hier ohne obligatorisches Namensschild sieht. Er braucht es nicht. Dabei ist er schon auf dem Sprung. Er hat sich nach seinem Vortrag einige Start-ups angesehen, kam mit Gründern ins Gespräch. „Ich bin begeistert von der zukunftsgerichteten Atmosphäre, die einem hier begegnet“, sagt er. Dem Investor seien ein paar innovative Geschäftsmodelle aufgefallen. Einzelheiten nennt er nicht. Er hat vor, sich mit einigen Ideen in der kommenden Woche näher zu beschäftigen und auch ein paar Meetings vereinbaren.
Als um 18.30 Uhr die ersten ein Bier aufmachen, sind Candau und Ickenroth kaputt. Stunden voller Händeschütteln, immer wieder kurz die Idee pitchen und sich vorstellen, liegen hinter ihnen. Trotz der Gespräche haben sie noch kaum Papier-Investitionen erhalten. „Das ist aber nicht schlimm. Wir sind ja nicht hier, um die Karten zu sammeln, sondern um uns vorzustellen“, sagen die beiden.
Tipps für die Gewinner des Pitch Marathons variieren bis zum Schluss. Einige nennen den Vergleichsanbieter für zerstörte Handys, kaputt.de, andere tippen auf den Hashtagerklärer #now. Viele sagen, sie hätten das System nicht verstanden, so wie der ergraute Investor im hellblauen Polohemd. Dass man die Investitionskarten habe abgeben müssen, sei ihm erst jetzt aufgegangen – zu spät. Als die Saarländer Sebastian Hof, Jennifer Moseler und David Poetzsch-Hefter aufgerufen werden, sitzen sie ganz hinten im Hörsaal. Erst als sich einige nach ihnen umdrehen, merken die drei, dass sie gewonnen haben. Für ihren ersten Pitch in Berlin haben sie 3,3 Millionen fiktive Euro bekommen, die höchste Summe des heutigen Tages. Umarmungen, dann schnell nach vorn auf die Bühne. Ein verhaltener Applaus begleitet sie. Viele sind schon vorher abgereist, andere stoßen draußen in der Abendsonne an. Es ging nie ums Gewinnen, nur um den Pitch.