Maya, 10, ist Teil des Chors "HandsUp", der Lieder gebärdet. "Dein SPIEGEL" hat eine Probe besucht und dabei erfahren, wie Songtexte durch Handbewegungen lebendig werden.
Aus den Boxen neben der Bühne kommt laute Musik. "Cover Me in Sunshine" singt die Sängerin Pink, "hüll mich ein in Sonnenschein". Der Chor auf der Bühne wippt im Takt, aber es sind keine Stimmen zu hören. Denn die Chormitglieder übersetzen die Lieder in Gebärdensprache, in die Sprache, die gehörlose Menschen benutzen. Wenn das Wort "Sonnenschein" fällt, bewegen sie ihre Finger, als würden Sonnenstrahlen auf sie einprasseln. Beim Wort "Welt" formen sie einen Kreis vor ihrer Brust. Einige Kinder, die auf der Bühne stehen, können hören. Andere sind gehörlos, oder sie hören nur sehr wenig.
Maya geht seit einem Jahr auf die Gehörlosenschule, in der der Chor probt. "Vorher war ich auf einer Schule für hörende Kinder", erzählt sie. Maya ist gehörlos, aber trägt ein Cochlea-Implantat. Das ist ein besonderes Gerät, das bei einer Operation ins Innenohr eingesetzt wird. Maya kann damit hören und sprechen, wenn auch etwas undeutlicher als andere Menschen. Allerdings ist das Hören mit dem Implantat anstrengend: Alle Geräusche um Maya herum werden lauter, auch die, die sie eigentlich nicht hören will, etwa eine tickende Uhr. Damit sie Gespräche noch entspannter führen kann, möchte Maya Gebärdensprache lernen. "Das Gebärden von Liedern hilft mir dabei", sagt sie.
Den Gebärdenchor gibt es seit zehn Jahren. Zwei Lehrerinnen der Gehörlosenschule haben ihn gegründet und ihm den Namen "HandsUp" gegeben. Das bedeutet "Hände hoch". Mehrmals im Jahr tritt der Chor vor Publikum auf. "Am Anfang war ich sehr nervös, aber jetzt freue ich mich auf die Auftritte", sagt Maya.
Neben den Kindern von der Gehörlosenschule machen auch hörende Kinder bei HandsUp mit. Viele von ihnen kommen von anderen Schulen, an denen es AGs für Gebärdensprache gibt. Für sie gehört Maya zu den Expertinnen. Schließlich benutzt Maya in der Schule täglich Gebärdensprache.
Einige Kinder tun das noch häufiger, so wie Julian und Milian. Die Zwillinge sind elf Jahre alt und kommen aus einer gehörlosen Familie. Die Gebärdensprache ist ihre Muttersprache. Sie gebärden so schnell, dass selbst die Chorleiterinnen nicht immer hinterherkommen. "Von ihnen kann ich viel lernen", sagt Maya.
Julian und Milian haben kein Cochlea-Implantat. Sie hören nicht und haben deshalb auch nicht gelernt zu sprechen. Sie verständigen sich anders. Wenn sie zum Beispiel zum Bäcker gehen, zeigen sie einen Ausweis vor, auf dem steht, dass sie gehörlos sind. Dann versuchen sie, mit Gebärdensprache und durch Zeigen zu erklären, was sie einkaufen möchten.
Im Haus ihrer Familie gibt es einige Besonderheiten. Wenn jemand an der Tür klingelt, leuchtet in jedem Raum ein Licht auf. Zum Aufwachen benutzen die Eltern einen Wecker, der im Bett liegt und vibriert. Julian und Milian finden es nicht schlimm, gehörlos zu sein - sie kennen es nicht anders. "Es gibt auch Vorteile", gebärdet Julian und lacht. "Beim Schlafen haben wir immer unsere Ruhe."
Seit vier Jahren sind die beiden im Gebärdenchor. Wenn sie nah genug an den Boxen stehen, können sie die Musik im Körper spüren. "Lieder mit Schlagzeug oder E-Gitarren sind besonders toll, je lauter, desto besser", sagt Milian. Im Chor werden aber meistens Popsongs gebärdet.
Normalerweise gibt es für jedes Wort eine eigene Gebärde. Beim Interpretieren der Lieder würde das aber viel zu hektisch werden. Deshalb haben sich die Chorleiterinnen für jede Textzeile bestimmte Bewegungen überlegt. Die Leiterinnen achten darauf, dass sich die Gebärden wiederholen, damit sich auch die hörenden Kinder die Texte merken können. In der deutschen Gebärdensprache gibt es Nomen, Verben und Adjektive - wie in jeder anderen Sprache auch. Viele Gebärden haben etwas mit dem Wort zu tun, das sie darstellen. Mayas Lieblingsgebärde ist "Schmetterling". Dafür überkreuzt sie ihre Hände so, dass der Handrücken nach vorne zeigt, legt die Daumen aneinander und wackelt mit den Fingern.
In einigen Ländern gibt es für das Wort eine andere Gebärde. Das liegt daran, dass viele Länder ihre eigene Gebärdensprache haben. Auch innerhalb eines Landes gibt es Unterschiede: In Köln sind manche Gebärden anders als in Berlin oder München. So ist das in der gesprochenen Sprache ja auch, in Hamburg sagt man Brötchen, in München sagt man Semmel. Hin und wieder kommt es vor, dass neue Gebärden entstehen. So war es zum Beispiel in der Corona-Pandemie. Für das Wort Corona gab es am Anfang verschiedene Gebärden, doch schon bald hatten sich die Gehörlosen in Deutschland auf eine geeinigt.
Auch ein Alphabet gibt es in der Gebärdensprache. Die Buchstaben werden mit den Fingern geformt: Das I ist ein ausgestreckter kleiner Finger, das V sieht aus wie ein Peace-Zeichen. So können zum Beispiel Namen gebärdet werden. Die meisten Gehörlosen benutzen aber einen Gebärdennamen, den sich andere Gehörlose für sie ausgedacht haben.
Mayas Gebärdenname besteht aus dem Handzeichen für den Buchstaben Y und einer speziellen Handbewegung. Sie bewegt die Hand von ihrem Mund weg, was der Gebärde für Lachen ähnelt. "Der Name kommt daher, dass ich so fröhlich bin", sagt Maya. Und er zeigt, dass ihr Name mit y geschrieben wird. Auch hörende Menschen können einen Gebärdennamen haben. Den sollte sich aber immer eine gehörlose Person ausdenken, damit er für andere Gehörlose einfach zu lernen ist.
Mayas Eltern haben mittlerweile selbst angefangen, Gebärdensprache zu lernen. In ganz Deutschland gibt es 200.000 Menschen, die diese Sprache beherrschen. Julian findet, dass das zu wenige sind. "Wir wünschen uns, dass noch viel mehr Menschen Gebärdensprache lernen", sagt er. "Dann könnten wir uns mit allen unterhalten."
Dieser Artikel erschien in "Dein SPIEGEL" 8/2023.