Die Gegend rund um den Weißen Stein in Frankfurt ist Kleinstadtidyll und Knotenpunkt zugleich. Menschen vor Ort wissen beides zu schätzen.
Die Straßen in Eschersheim sind leer am Freitagmorgen. Zumindest dort, wo der Dartpfeil diesmal gelandet ist: zwischen Lindenring und Willibrachtstraße. Hier reiht sich Einfamilienhaus an Einfamilienhaus, die Lage ist ruhig, die Gärten sind gepflegt. Manch einer würde die Gegend vermutlich als spießig beschreiben. Klaus und Martina Thalheimer stören sich daran wenig. Sie schätzen die Ruhe und die „nette Nachbarschaft" in Eschersheim. Bevor sie im Jahr 2001 hierhergezogen sind, haben die Thalheimers im Nord- und im Ostend gelebt. So schön wie an ihrem jetzigen Wohnort sei es dort nicht gewesen.
„Eschersheim ist für mich einer der besten Stadtteile", sagt Klaus Thalheimer. Man sei schnell im Grünen und bleibe vom lästigen Fluglärm verschont. Seine Frau Martina stimmt ihm zu. Sie ist auch über ihr Ehrenamt mit dem Viertel verbunden: Seit 17 Jahren arbeitet sie in der Schulbücherei der Ziehenschule. Für ein paar Tage werden die Thalheimers die Gegend nun trotzdem verlassen. Sie besuchen ihre Tochter in der Schweiz, die sich dort in den letzten Zügen ihres Medizinstudiums befindet. Etwas länger als einen Monat ist es her, dass sich die Familie zuletzt gesehen hat: „Seit halb sieben bekommen wir Nachrichten, dass wir uns bitte beeilen sollen", sagt Martina Thalheimer lachend. Die Skiausrüstung für die bevorstehende Reise haben die Eltern bereits ins Auto geladen. Einige Minuten später verschwinden sie in Richtung Autobahn - und schon ist es wieder still zwischen Lindenring und Willibrachtstraße.
Nur einige Meter weiter jedoch zeigt sich Eschersheim von einer ganz anderen Seite. Es genügt, sich dafür dem Schienenstrang inmitten des Viertels zu nähern: Wie eine unsichtbare Grenze teilt er es in zwei gegensätzliche Hälften. Im Süden, wo Klaus und Martina Thalheimer leben, befinden sich neben wenigen Dienstleistern hauptsächlich Wohnhäuser. Die stilvollen bunten Altbauten erwecken das Gefühl, weit weg von der Großstadt zu sein und für einen Moment in vergangene Jahrzehnte entfliehen zu können. Im Norden hingegen, zwischen Schulen, Restaurants und Geschäften, geht es deutlich diverser und lebhafter zu.
Auch an der U-Bahn-Station Weißer Stein, gleich hinter der Maybachbrücke, wimmelt es nur so von Menschen. Viele sind in Eile und haben keine Zeit für ein Gespräch. Nicht so Michael Börner: Der gebürtige Ginnheimer steht vor dem Eingang von „Presseshop Schaad" und beobachtet das hektische Treiben aus der Ferne. Eigentlich habe er heute Morgen einen Kundentermin gehabt, erzählt der Schreiner, dieser sei aber wegen des positiven Corona-Tests im Umfeld eines Kollegen auf Montag verschoben worden. Pech für den Kunden, Glück für Börner: Nun hat er Zeit, bei seinem Lieblingskiosk vorbeizuschauen. Schon seit Jahren stattet er diesem täglich einen Besuch ab, kauft eine Packung Zigarillos für einen Euro und unterhält sich mit der Inhaberin Sandra Engel. „Das verschönert meinen Tag", sagt Börner und zieht genüsslich an seinem Zigarillo.
Im Zeitungsständer vor der Tür des Kiosks finden sich türkische, polnische und französische Blätter. Das Publikum hier sei „sehr international", erzählt Engel, „allein schon wegen der U-Bahn-Station". Sie selbst wohne nicht in Eschersheim, sondern arbeite nur hier. Doch alteingesessene Bürger:innen - „echte Eschersheimer", wie Engel sie nennt - gebe es im Viertel auch zur Genüge.
Julia Gegg ist eine von ihnen. Als unser Reporterteam sie trifft, kehrt sie gerade von einem Zwölf-Kilometer-Lauf zurück. Mindestens dreimal die Woche gehe sie joggen, erzählt sie, und das seit mehr als 30 Jahren. Auch einen Marathon hat sie bereits erfolgreich hinter sich gebracht. Ihre Route führt meist in Richtung Hausen, durch den Niddapark und am Ufer der Nidda entlang. Dort habe sie auch einen Kleingarten, den sie mit ihrem Mann bewirtschafte. „Während Corona muss man ja zusehen, dass man in Bewegung bleibt", sagt sie und lacht.
Sich selbst beschreibt Julia Gegg als „heimatverbunden". Bis auf zwei Jahre in der japanischen Hauptstadt Tokio hat sie ihr gesamtes Leben in der Nähe des Weißen Steins verbracht. Der Garten ihres Elternhauses grenzt an den der Ziehenschule, die Gegg als Kind besuchte. Später studierte sie Japanologie, machte einen kurzen Abstecher ins Ausland und begann schließlich, in der Frankfurter Innenstadt zu arbeiten. Ihr Viertel zu verlassen, kam für sie jedoch nie infrage. „Ich liebe Eschersheim", sagt Julia Gegg lächelnd, „für mich ist es die perfekte Ecke." Die Infrastruktur hier sei noch natürlich gewachsen, nicht wie auf dem Riedberg, wo man sich kaum noch zurechtfinde. Zudem sei das Viertel sehr individuell; nicht zu groß, aber trotzdem gut angebunden. „Ich fühle mich hier sauwohl", fasst Gegg ihre Beziehung zu Eschersheim zusammen. „Obwohl ich die Ferne liebe, bin ich gerne hier."
Stefan Umbach kann über solche Aussagen vermutlich nur den Kopf schütteln. Er arbeitet für das Unternehmen Querbeet und liefert regelmäßig Gemüsekisten im Viertel aus. 40 bis 50 Kunden habe er in Eschersheim, alle seien freundlich und zuvorkommend. „Ich fahre gerne in dieser Gegend", sagt Umbach, „aber wohnen wollen würde ich hier nicht." In Eschersheim gebe es ihm zu viel Verkehr, zu viel Bebauung und zu wenig Gärten. „Da mag ich es lieber etwas ländlicher."
Nach einem Morgen im Viertel zeigt sich also: Geschmäcker sind verschieden. Was dem einen zu groß und zu laut ist, ist für den anderen genau richtig. Genauso unterschiedlich wie die Geschmäcker der Menschen sind jedoch auch die Gegenden nördlich und südlich vom Weißen Stein.Und vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass die meisten Eschersheimerinnen und Eschersheimer so gerne hier leben: Zwischen urigen Kneipen, prunkvollen Häusern und den regelmäßigen Geräuschen der U-Bahn kommen eben (fast) alle auf ihre Kosten.
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