Elena Matera

Journalistin (Wissenschaft & Gesellschaft), Berlin

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Artikel

Traumatische Abtreibung: „Beim ersten Mal hilflos, beim zweiten Mal wütend"

Berlin - Sie erinnert sich an die weinende Frau auf der Liege nebenan, an den Arzt in der Ambulanz, den sie nicht kannte und der sie operieren wollte, obwohl sie noch nicht betäubt war. Sie erinnert sich an das Narkosemittel, von dem ihr so schlecht wurde, dass sie das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen. Sie erinnert sich an das Rütteln der Krankenschwester im Aufwachraum und daran, wie sie aufgefordert wurde, doch endlich zu gehen. Sie erinnert sich, wie sie versuchte aufzustehen, aber immer wieder zusammensackte. Doch sie musste die Ambulanz verlassen - Platz machen für andere Patientinnen.


Wenn Robin K. an diesem verregneten Nachmittag in dem fast leeren Café in Neukölln von ihrem Schwangerschaftsabbruch vor acht Jahren erzählt, merkt man ihr an, wie belastend die Erinnerungen für sie sind. Ihre Stimme zittert immer wieder, und manchmal schüttelt sie den Kopf, ganz so, als würde sie selbst nicht glauben können, was sie erlebt hat. Vieles hat die Berlinerin verdrängt, doch einige Erinnerungen wie der Eingriff in eben jener Hildesheimer Ambulanz, lassen sie nicht los. Die Theaterpädagogin war bei ihrem Abbruch Anfang 20, Studentin in Hildesheim. „Im Nachhinein finde ich es erschreckend, wie mit mir umgegangen wurde. Es war traumatisch“, sagt sie heute. Sie wolle nicht weiter schweigen, sagt sie, sondern über ihre Erlebnisse berichten, auf die Missstände in Deutschland aufmerksam machen.


Tagelang sei ihr nach dem Abbruch noch von dem Narkosemittel übel gewesen. Auch habe es keine medizinische Nachversorgung gegeben. Und ja, sie hätte damals nach dem Eingriff dringend eine Psychologin gebraucht, berichtet Robin K. Dass ihr eine psychologische Beratung nach einem Schwangerschaftsabbruch zugestanden hätte, habe sie damals nicht gewusst.


In Hildesheim führt auch heute noch immer kein öffentliches Krankenhaus Schwangerschaftsabbrüche durch, wie eine Recherche der Berliner Zeitung in Zusammenarbeit mit der Redaktion Correctiv.Lokal zur Gesundheitsversorgung von Schwangerschaftsabbrüchen zeigt. So gaben nur 60 Prozent aller öffentlichen Krankenhäuser mit gynäkologischer Station in Deutschland an, überhaupt Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Von Hildesheim aus ist die nächste Option ein Krankenhaus in Hannover, gut 40 Kilometer entfernt. Für Robin K. war das ohne eigenes Auto nicht möglich. Denn nicht nur die Anreise, auch die Fahrt nach Hause kann für betroffene Frauen problematisch sein: Sie bluten, haben Schmerzen, leiden unter Kreislaufproblemen, müssen sich übergeben. Nur durch Hörensagen kam die Berlinerin auf eben jene Ambulanz, zu der sie schließlich ging.


Die Schilderungen der Erlebnisse in der Ambulanz beruhen auf Robin K.s Erinnerungen. Das Rütteln der Krankenschwester, der Arzt, der sie noch im wachen Zustand operieren wollte – all das ist im Nachhinein schwer zu verifizieren. Die Erfahrungen der 28-Jährigen aber stimmen überein mit den Aussagen zahlreicher betroffener Frauen in Deutschland, die an der Recherche teilgenommen und von ihren Erlebnissen erzählt haben. Auch sie berichten von Fließbandabfertigungen, Komplikationen beim Eingriff, fehlenden Nachversorgungen und weiten Entfernungen zum nächsten öffentlichen Krankenhaus.


Jeden Tag brechen rund 250 Frauen in Deutschland eine Schwangerschaft ab. Jede vierte betroffene Person berichtet von einer schlechten medizinischen Versorgung. Bewertungen, Verurteilungen, Beleidigungen, unsensible Äußerungen, keine Aufklärung – zahlreiche Betroffene berichteten im Rahmen der Recherche, dass sie das Verhalten des medizinischen Personals bei ihrem Schwangerschaftsabbruch traumatisiert habe. Rund 50 Betroffene seien gedemütigt und beleidigt worden.


„Die Anästhesistin ist sehr rabiat mit mir umgegangen, dadurch hatte ich Angst im OP-Saal. Ich lag mit gespreizten Beinen zur Tür, und auf meine Bitte hin, die Tür zu schließen, warf sie mir aus der Ferne ein Handtuch zwischen die Beine, damit ich mich bedecken kann“, sagt etwa eine der befragten Frauen aus Niedersachsen über ihre Erfahrungen bei ihrem Schwangerschaftsabbruch. Eine Betroffene erzählt, wie ihr Frauenarzt sie als „Monster“ bezeichnet habe. Eine weitere Frau berichtet, wie ihre Ärztin ihr ungefragt das Ultraschallbild gezeigt habe und sie das Herz des Embryos hören konnte.


Ähnliches hat auch Robin K. erlebt. Auch ihre Frauenärztin habe ihr damals direkt das Ultraschallbild gezeigt, über den Herzschlag gesprochen. „Das wollte ich alles nicht. Ich war komplett überrumpelt“, sagt die Berlinerin. Sie war bereits in der zehnten Woche schwanger. Nur bis zur zwölften Woche darf man eine Schwangerschaft abbrechen. Und dann sei dieser Spruch von der Ärztin gekommen, der ihr noch immer im Gedächtnis hängt: „Wenn es das Kind bis hierhin geschafft hat, dann schafft es das auch weiter.“ Als ginge es darum, dass die Schwangerschaft ein Wunder sei.


Für die damalige Studentin war es aber kein Wunder. Der positive Schwangerschaftstest habe sie kalt erwischt, sie hatte doch mit der Pille verhütet. „Ich wollte und will irgendwann Mutter sein, Kinder haben. Aber nicht so“, sagt die 28-Jährige heute. „Ich hatte keinen Partner, keine finanziellen Rücklagen, keine Unterstützung meiner Eltern, mit denen ich keinen Kontakt hatte. Ich war allein. So wollte und konnte ich kein Kind aufziehen.“


Robin K. kontaktierte eine Beratungsstelle, musste allerdings fünf Tage warten, obwohl die Zeit drängte. Die Beratung bei einer staatlich anerkannten Stelle ist per Gesetz verpflichtend, um den Beratungsschein zu erhalten. Erst mit diesem Dokument in der Hand ist ein Abbruch überhaupt straffrei. Denn ein Schwangerschaftsabbruch gilt nach Paragraf 218 des Strafgesetzbuches als Straftat. Allein die Gesetzeslage habe bei Robin K. das Gefühl ausgelöst, dass es etwas „Verbotenes“ sei, eine Schwangerschaft abzubrechen, erzählt sie. Wer wolle schon gerne als Täterin angesehen werden?


„Ich habe mich für den Gedanken geschämt, das Kind vielleicht nicht haben zu wollen und habe es nur ganz leise in der Beratung gesagt“, erzählt die Berlinerin. „Die Beraterin hat gemerkt, dass ich unsicher war. Ich war auch total verheult. Doch sie fing an zu erzählen, welche Gelder mir zustehen und dass ich das Studium beenden und arbeiten und auch direkt den Kitaplatz beantragen könnte. Es hat mich überfordert.“ Die Beraterin habe auch gefragt, wie Robin K. verhütet habe. Eine Frage, die die 28-Jährige rückblickend unfassbar findet. „Es ging die Beraterin nichts an, wie und warum diese Schwangerschaft zustande gekommen war.“


Einerseits sei Robin K. dankbar für das Gespräch gewesen, da sie damals Redebedarf hatte, andererseits habe sie sich gefühlt, als würde die Beraterin sie zu einem Kind überreden wollen. Auch andere betroffene Frauen berichten im Rahmen der Recherche, wie die Beraterinnen und Berater sie gedrängt hätten, die ungewollten Schwangerschaften fortzuführen. „Es war furchtbar. Ich musste mich eine Stunde rechtfertigen, warum ich kein Kind möchte“, erzählt etwa eine Betroffene aus Thüringen.


Robin K. entschied sich letztlich für den Abbruch, vereinbarte den Termin in der Ambulanz. Nach dem Abbruch fragte Robin K. in der Praxis ihrer Gynäkologin nach, ob sie das Ultraschallbild haben könne für einen persönlichen Trauerprozess. Sie hatte das Bedürfnis danach. Doch die Sprechstundenhilfe soll sich geweigert haben, ihr das Bild zu geben. „Warum wollen Sie denn trauern? Sie wollten es ja nicht“, soll sie gesagt haben, so berichtet es Robin K.


Es seien diese Vorwürfe, diese Verurteilungen gewesen, die den Abbruch so traumatisch gemacht hätten. „Du hast eh schon mit deinem eigenen Gewissen zu kämpfen. Und dann bekommst du noch von allen Seiten solche Sätze an den Kopf geworfen“, sagt sie.


Wenn man der 28-Jährigen heute gegenübersitzt, merkt man ihr keine Unsicherheit an. Sie spricht mit fester, klarer Stimme, hat einen selbstbewussten Blick. Ja, sie habe sich im Laufe der Jahre verändert, sei feministischer, selbstsicherer geworden, sagt Robin K. Sie habe sich breit über das Thema Schwangerschaftsabbruch informiert und mit der Zeit festgestellt, was bei ihrem eigenen Abbruch schief gelaufen war. „Ich habe begriffen: Es ist nicht meine Schuld, ich bin keine Täterin“, sagt sie.


Auch weitere betroffene Frauen berichten im Rahmen der Recherche von Schuldzuweisungen und Vorwürfen: „Ich wurde behandelt, als sei ich zu doof zum Verhüten und ein Straftäter“, sagt eine der Frauen. Eine weitere erzählt: „Die Beraterin machte mir Vorwürfe, ich würde mein Leben über das meines ungeborenen Kindes stellen und sagte, wir Frauen seien auf der Welt, um Kinder zu bekommen.“


Sie habe ihre Entscheidung nie bereut, erklärt Robin K. Doch dann – fünf Jahre nach dem Abbruch, sie lebte wieder in Berlin – waren sie erneut da: die zwei Striche auf dem Schwangerschaftstest. Positiv. Auch dieses Mal hatte sie verhütet, und wieder fühlte sie sich nicht bereit, Mutter zu werden. Sie hatte zwar einen festen Partner, aber sie lebten zu der Zeit in einem Bus, hatten kein festes Einkommen, und dann noch der alles entscheidende Grund: Sie wollte nicht.


Die Erinnerungen vom ersten Abbruch kamen hoch: die Ärztin, die ihr den Herzschlag zeigte, das Gespräch mit der Beraterin, der Eingriff in der Ambulanz, die Sprechstundenhilfe. Und doch war alles anders. „Beim ersten Mal war ich hilflos, beim zweiten Mal war ich wütend“, sagt Robin K. Zur Beratung nahm sie dieses Mal ihren Freund mit. Der Entschluss stand für das Paar von vornherein fest: Sie wollten die Schwangerschaft abbrechen. Doch gleich zu Beginn des Gesprächs habe die Beraterin ihr folgende Frage gestellt: „Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie sehr wollen sie das Kind behalten?“ Robin K. fühlte sich von der Frage überfordert.


„Die Beraterin war freundlich, aber sie hatte eben ganz klar den Standpunkt, dass wir das Kind behalten sollten“, erzählt Robin K.s Freund bei einem Telefonat. Er erinnert sich: „Sie hat viele Argumente auf den Tisch gebracht, warum wir das Kind behalten sollten. Es war richtig unangenehm.“ Am nächsten Tag kam bei Robin K. dann Wut auf. „Ich hatte ja meine Entscheidung gefasst, und schon wieder wurde mir ein schlechtes Gewissen eingeredet“, sagt sie.


Letztlich wäre die Beratung gar nicht nötig gewesen, da sich bei einer erneuten Untersuchung zeigte, dass es eine Eileiterschwangerschaft sein könnte, im Berliner Vivantes Klinikum am Urban wurde eine Molenschwangerschaft vermutet. Das bedeutet, dass sich das befruchtete Ei nicht zu einem Fötus entwickelt hatte, sondern zur Blasenmole, eine Art Gewebewucherung.


Drei Tage später wurde die Diagnose im Krankenhaus bestätigt, doch die OP konnte an dem Tag, einem Sonntag, nicht stattfinden. Robin K. musste am kommenden Tag um 8 Uhr früh im Krankenhaus für den Eingriff erscheinen, ohne gefrühstückt zu haben – und wartete. Nach vier Stunden bestand ihr Freund darauf, dass der Eingriff endlich vorgenommen werde. „Ich konnte es nicht mehr ertragen, sie länger leiden zu sehen“, erzählt er. Denn Robin K. ging es schlecht: Sie litt aufgrund der Molenschwangerschaft unter starker Übelkeit, was auch in der Patientenakte vermerkt wurde, die der Berliner Zeitung vorliegt.


Um 12.47 Uhr gab man ihr schließlich eine Cytotec-Tablette, ein Medikament, das bei Abbrüchen benutzt wird, um den Muttermund zu öffnen. Das zeigt ein Eintrag in der Akte. Eigentlich wird empfohlen, das Medikament gut zwei bis drei Stunden vor dem Eingriff einzunehmen. Doch Robin K. wurde erst 12 Stunden später, um ein Uhr nachts, operiert. Sie war den gesamten Tag, 17 Stunden, nüchtern, spürte extreme Übelkeit. „Ich war den dritten Tag im Krankenhaus, mir ging es schlecht, ich war dehydriert, da ich auch kein Wasser trinken durfte, und ich erinnere mich, dass ich wahnsinnig geblutet habe. Es ist in meinen Erinnerungen alles sehr verschwommen“, sagt Robin K.


Fakt ist: Zwischen der Einnahme von Cytotec und dem eigentlichen Eingriff darf nicht zu viel Zeit verstreichen, da sonst schwere Nebenwirkungen auftreten können, wie die Recherche von Correctiv zeigt. Eine Betroffene aus Chemnitz berichtet, dass auch sie Cytotec einnehmen, und dann, wie Robin K., stundenlang warten musste. Sie erzählt, wie ihr das Blut an den Beinen herunterlief und sie dann auf Toilette einen Abgang hatte, bei dem die zwei Embryos in die Toilettenschüssel fielen. Ein weiteres traumatisches Erlebnis mit einem Schwangerschaftsabbruch.


„Es ist uns bewusst, dass ein operativer Eingriff wie im Fall der Molenschwangerschaft von Frau K. körperlich und psychisch sehr belastend ist. Nach genauer Prüfung der Gegebenheiten und Umstände am Operationstag, an dem viele Notoperationen stattfanden, kommen wir zu dem Ergebnis, dass die Wartezeit leider nicht zu vermeiden war“, heißt es von Seiten des Vivantes Klinikums zu dem Vorfall.


Die Klinik hätte bereits 2019 ein hohes Patientenaufkommen gehabt, die Eingriffe wurden in der Regel mit circa drei Wochen Vorlauf geplant. Die Wartezeiten für Operationen hängen laut Klinikum jeweils vom aktuellen Notfallaufkommen und der Dringlichkeit der jeweiligen Operation ab. An dem Tag, an dem Robin K. operiert werden sollte, soll es vier größere geplante, dringliche und nicht aufschiebbare OPs gegeben haben. Zwischen 16 Uhr und 0 Uhr seien zwei lebensrettende chirurgische Eingriffe der zwei höchsten Dringlichkeitsstufen durchgeführt worden. „Unmittelbar danach konnte Frau K. operiert werden. Leider wurde an diesem Tag kein früherer OP-Slot frei“, schreibt die Pressestelle des Klinikums in ihrem Statement.


Zwei Abbrüche, zwei Erlebnisse, die Robin K. keiner Person wünscht, erzählt sie bei einem weiteren Treffen in einem Park. „Menschen, die eine Schwangerschaft abbrechen wollen, brauchen einfühlsame, geschulte Beraterinnen, Ärztinnen und Ärzte“, sagt sie.


Dass die Bundesregierung die Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen prüfen und es Ärztinnen und Ärzten in Zukunft möglich machen will, auf ihren Homepages über ihre Leistungen zu informieren, ist zwar ein erster Schritt zur Besserung. Doch fordern viele mehr als das, nämlich eine grundlegende Streichung der medizinischen Leistung aus dem Strafgesetzbuch.


„Im Nachhinein finde ich die Gesetzeslage am belastendsten“, berichtet eine der während der Recherche befragten Frauen. Sie habe nie an ihrer Entscheidung gezweifelt, auch wenn sie sehr schwierig war. „Dass es allerdings eine Straftat sein soll, diese für mich in dieser Situation einzig richtige Entscheidung zu treffen, kann ich einfach nicht verstehen. Es ist verletzend, es macht mich klein, es macht mich wütend“, sagt sie.

Robin K. kennt dieses Gefühl nur zu gut. Sie weiß mittlerweile: Sie trägt keine Schuld. Es ist ihr Recht, über ihr Leben und über ihren Körper selbst zu entscheiden.



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