Elena Matera

Journalistin (Wissenschaft & Gesellschaft), Berlin

2 Abos und 2 Abonnenten
Artikel

Warum Erdgas keine grüne Brückentechnologie ist

Berlin - Mit Erdgas und Atomkraft in eine klimafreundliche Zukunft starten - der Plan der Kommission der Europäischen Union (EU), der am Sonnabend verkündet wurde, hat in den vergangenen Tagen für viel Diskussion gesorgt. Die unsichere Kernenergie und das klimaschädliche Erdgas sollen zukünftig als nachhaltige, also grüne Energien in der sogenannten Taxonomie gekennzeichnet werden. Dabei handelt es sich um eine EU-Verordnung, die vorgibt, welche Investitionen als nachhaltig gelten und welche nicht. Das soll Anlegern, Banken, Versicherungen ermöglichen, grüne Projekte zu identifizieren. Der Bau neuer Kern- und Gaskraftwerke soll nun unter bestimmten Bedingungen als grüne Investition anerkannt werden.


Die Bundesregierung hat die Einstufung von Atomkraft als nachhaltige Energieform bereits zurückgewiesen. Der Grund liegt auf der Hand: Die Atomenergie ist hochriskant und teuer. Außerdem strahlt der Atommüll Jahrmillionen radioaktiv und gefährdet damit das Leben zukünftiger Generationen. Die Kernenergie ist somit genau das Gegenteil von nachhaltig. Erdgas als Brückentechnologie zu kennzeichnen, begrüßt die Bundesregierung hingegen. Auch große Teile der Wirtschaft sehen Erdgas als eine wichtige Brücke in Richtung Klimaneutralität. Das Versprechen: Neue Gaskraftwerke sollen ab 2035 mit Wasserstoff betrieben werden. Bis dahin wird Erdgas eingesetzt und dabei als grüne Energie betitelt. 


Wie klimafreundlich ist Erdgas?

Das zentrale Problem: Mit der Einstufung als nachhaltige Brückentechnologie wird Erdgas als ebenso zukunftsträchtig wie Solar- und Windkraft eingeschätzt. Doch das ist es eben nicht. Zwar stößt Erdgas im Vergleich zu Kohle weniger CO2 aus. Bei der Nutzung von Erdgas entstehen jedoch neben CO2 auch Methanemissionen, denn Erdgas besteht überwiegend aus dem Treibhausgas Methan (CH4). Gelangt dieses in die Atmosphäre, ist es nach dem Weltklimarat IPCC in den ersten 20 Jahren etwa 87-mal schädlicher für das Klima als CO2. Bezogen auf hundert Jahre wirkt es immer noch 36-mal stärker. Schon in kleinen Mengen hat es daher einen großen Treibhauseffekt.


Direkte Methanemissionen entstehen zudem bei Förderung, Lagerung, Transport und Verbrauch von Erdgas, berichtet die Organisation Scientists for Future in einer Studie. „Methanemissionen, die durch Leckagen, bewusstes Ablassen oder Abfackeln insbesondere bei der Erdgasförderung entstehen, wurden bisher nicht oder nicht vollständig in die Berechnung der Klimawirkung von Erdgas einbezogen“, sagt Erdgasexpertin Hanna Brauer.

Der Transport von Erdgas als Flüssiggas erzeuge zusätzliche Treibhausgas-Emissionen. Diese würden bei Flüssigerdgas-Importen, beispielsweise aus Qatar und den USA, insbesondere durch die energieintensive Verflüssigung/Kühlung auf minus 160 Grad Celsius entstehen und lägen in der Größenordnung der Pipeline-Importe aus Russland.


Investitionen in Gaskraftwerke sind kontraproduktiv

Die Emissionen von Gaskraftwerken pro Kilowattstunde erzeugten Stroms seien zwar niedriger als bei Kohlekraftwerken, seien aber nach wie vor beträchtlich, sagt Humanökologe Helmut Haberl von der Universität für Bodenkultur in Wien dem Science Media Center. „Vor dem Hintergrund des klimapolitischen Ziels, die CO2-Emissionen in Europa in den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten auf null zu senken, erscheinen Investitionen in Gaskraftwerke kontraproduktiv. Damit würde die Abhängigkeit von Fossilenergie perpetuiert“, sagt der Wissenschaftler.


Haberl vermutet sogar, dass sich die errichteten Gaskraftwerke in wenigen Jahren als Hindernis für den Klimaschutz darstellen würden. „Die Investition in Gaskraftwerke stünde in diametralem Gegensatz zu Beschlüssen, nicht mehr in Fossilenergie zu investieren“, sagt Haberl.


Auch Gunnar Luderer vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) in Potsdam sieht die Vorschläge der EU-Kommission kritisch. „Schon bis 2030 brauchen wir eine weitgehend CO2-neutrale Stromversorgung, um die europäischen Klimaziele zu erreichen. Neue Kernkraftwerke sind teuer und brauchen sehr lange – diese Zeit haben wir schlicht nicht“, sagt Luderer. Mit erneuerbarem Strom aus Sonnen- und Windenergie stehen deutlich günstigere Lösungen bereit, die auch viel schneller hochskaliert werden können.“


Der Schlüssel zur Klimaneutralität liegt nach wie vor im Ausbau der erneuerbaren Energien und nicht in der Atomkraft oder im Erdgas. Das zentrale Problem: Der Ausbau der Windkraft- und Solaranlagen hätte in den vergangenen Jahren schon viel stärker vorangetrieben werden müssen, in Deutschland und europaweit. Es wurde viel zu wenig investiert, etwa in die Ausbildung von Fachkräften. Allein in Berlin brauche man mehrere Tausend zusätzliche Fachkräfte für die Produktion, Installation und Wartung von Solaranlagen, erklärt Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme an der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW). Deutschlandweit benötige man bis 2035 gut 250.000 Fachkräfte. Doch derzeit gebe es nur knapp 50.000. Es seien daher gigantische Ausbildungs- und Umschulungsprogramme nötig. Auch die Errichtung neuer Solarmodulproduktionsstätten in Europa müsse dringend unterstützt werden, sagt der Wissenschaftler. Zudem müssten bürokratische Hürden endlich abgebaut werden, um den Ausbau vorantreiben zu können.


Auch im Bereich der Windenergie wurde bislang zu wenig investiert. Was deren Ausbau betrifft, war 2021 sogar eines der schlechtesten Jahre in Deutschland seit der Jahrtausendwende, zeigt eine Datenauswertung des SWR zur Windkraft. Nach Angaben der Bundesnetzagentur sollen 2021 nur 460 neue Windkraftanlagen an Land in Betrieb gegangen sein. Das ist der niedrigste Wert seit 20 Jahren. 


Koalitionsziele der neuen Bundesregierung reichen nicht aus

Die Koalitionsziele der neuen Bundesregierung für den Wind- und Fotovoltaikausbau machen deutlich, dass die bisher beschlossenen Maßnahmen nicht ausreichen werden. Für das Einhalten des Pariser Klimaschutzabkommens sind die Ziele noch viel zu gering, zeigt eine Studie der HTW unter der Leitung von Quaschning. Dabei zeigen Studien, dass eine Energieversorgung aus 100 Prozent erneuerbaren Energien bis 2030 möglich sei.


Wenn Europa bis zur Mitte des Jahrhunderts klimaneutral wirtschaften will, bleibt schlichtweg keine Zeit für Brückentechnologien wie Erdgas. „Statt in veraltete ‚Dinosaurier‘-Technologien zu investieren, braucht es Investitionen in wirklich nachhaltige erneuerbare Energien“, meint auch Antje von Broock, Geschäftsführerin beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). „Deutschland darf keine Vereinbarung eingehen, bei der durch die Duldung der Atomkraft auch eine falsche Förderung des fossilen Energieträgers Gas erreicht wird. Das ist eine klimapolitische Hypothek, denn wir müssen auch zeitnah aus fossilem Gas aussteigen. Diese Weichenstellung ist längst überfällig und die Ampel kann jetzt beweisen, ob sie wirklichen Veränderungswillen besitzt.“


Auch Erik Gawel vom Umweltforschungszentrum der Helmholtz-Gemeinschaft in Leipzig sieht das grüne Label für Erdgas und Atomkraft kritisch und als Hindernis für den Ausbau erneuerbarer Energien. „Das Nachhaltigkeits-Attest wird zur unerwünschten Umlenkung privater Finanzströme weg vom notwendigen Ausbau der Erneuerbaren und der Wasserstoffinfrastruktur hin zu Technologien von gestern führen“, betont der Wissenschaftler. 


Zugleich werde der langfristig unvermeidliche Übergang in eine „solare Wasserstoffwirtschaft“ verzögert und es würden der Gesellschaft dabei unnötige zusätzliche (Ewigkeits-) Lasten aufgebürdet. „Die als Brückentechnologie notwendige Gaskraft ist als bloßes Mittel des Übergangs schon gerade deswegen nicht dauerhaft ‚nachhaltig‘. Gaskraftwerke sind klimapolitisch eher ein ‚notwendiges transitorisches Übel‘, aber sicher keine gleichwertige dauerhafte ‚Nachhaltigkeitsalternative‘“, sagt Gawel. Auch sei offen, inwieweit ein Brückenbedarf tatsächlich neue Investments erfordert.


Bau von Gaskraftwerken kann sinnvoll sein

Ein Bau von Gaskraftwerken kann dennoch sinnvoll sein, meint Luderer vom PIK – und zwar als Reserveleistung in einem weitgehend auf erneuerbare Erzeugung basierenden Stromsystem. Denn wenn wir in Zukunft ausschließlich auf erneuerbare Energien setzen sollten, müssen wir uns auf jene Situationen vorbereiten, in denen keine Sonne scheint und gleichzeitig eine Windflaute herrscht. Es wird also kein Strom produziert. Bei solchen Flauten ist es daher entscheidend, auf gespeicherten Strom zurückgreifen zu können. Überschüssige Wind- oder Solarenergie kann man zum einen in Batterien speichern, etwa in Elektroautos. Für eine längere Zeit sind Batterien als Speicher allerdings nicht ausreichend. 


Eine weitere Möglichkeit ist daher, überschüssigen Wind- oder Solarstrom in grünen Wasserstoff umzuwandeln und unter Tage in großen Gasspeichern zu lagern. Bei Flauten kann man dann aus dem Wasserstoff in Gaskraftwerken Strom erzeugen. „Wichtig ist dabei, dass neue Gaskraftwerke auch auf Wasserstoff umgestellt werden können und dass ein angemessener CO2-Preis den Anreiz setzt, diese mittelfristig auf erneuerbare Brennstoffe umzustellen“, sagt Luderer. 


Erdgas als grüne Brückentechnologie zu bezeichnen, ist weder logisch, da das Gas klimaschädlich ist, noch zielführend, um die Pariser Klimaziele erreichen zu können. Kohle muss durch erneuerbare Energien ersetzt werden, nicht durch Erdgas. Daher muss mit großer Geschwindigkeit in Wind- und Solarausbau investiert werden. Der Bau von Gaskraftwerken kann nur als Lückenfüller in Zeiten von geringer Einspeisung erneuerbarer Energien sinnvoll sein, nicht als Ersatz von Kohlekraftwerken. Ein grünes Investment sind sie daher keineswegs. 


Wie geht es nun weiter? Mitte Januar will die EU-Kommission den finalen Vorschlag zur Taxonomie vorstellen, gegen den der Rat der Mitgliedstaaten und das EU-Parlament jeweils ein Veto einlegen können. Die Umsetzung kann nur dann verhindert werden, wenn sich mindestens 20 EU-Staaten zusammenschließen, die mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU vertreten, oder mindestens 353 Abgeordnete im EU-Parlament. Neben Deutschland haben sich allerdings bisher nur Länder wie etwa Portugal und Dänemark gegen eine Aufnahme der Atomkraft ausgesprochen. Und auch bei der geplanten Einstufung des Erdgases gibt es bislang keine ausreichend große Mehrheit dagegen. 


Zum Original