Berlin - Hasskommentare, Drohungen, Stalking, Fake-Profile - digitale Gewalt ist vielfältig. Doch Betroffene sind mit dem täglichen Hass im Netz meist auf sich allein gestellt. Anna-Lena von Hodenberg gründete daher 2018 die gemeinnützige Organisation HateAid, Deutschlands erste und einzige Beratungsstelle für Opfer digitaler Gewalt. Ein Interview über die Beobachtung, wie massiv Frauen im Netz angegriffen werden, warum der Hass in den sozialen Medien demokratiefeindlich ist und wieso Täter oft nicht bestraft werden. Mit diesem Interview startet die Berliner Zeitung die Wochenserie zum Thema „Digitale Gewalt".
Berliner Zeitung: Frau von Hodenberg, die Bildschirm-Zeit hat sich bei vielen Menschen in der Pandemie deutlich erhöht. Hat sich das auch auf die digitale Gewalt ausgewirkt?
Anna-Lena von Hodenberg: Auf jeden Fall. Die digitale Gewalt - also Belästigungen, Beleidigungen, Diffamierungen, Cyber-Stalking, Bedrohungen und mehr - hat in der Pandemiezeit stark zugenommen. Das können wir ganz deutlich erkennen.
Mit Corona war klar: Wir haben eine aufgeladene Nation. Es fehlt die Sicherheit, es gibt Ängste um die Gesundheit, den Arbeitsplatz. In solchen Situationen werden viele Menschen irrational. In den ersten Monaten der Pandemie war es noch ruhig, wie eine Ruhe vor dem Sturm. Dann schnellten die Beratungsanfragen fast exponentiell nach oben. Wir mussten sogar eine Warteliste einführen. Wir sehen deutlich, dass die Angriffe schneller und massiver sind. Gewisse Interessensgruppen nutzen das aus. Von verschiedenen Gruppen werden gezielte Feindbilder kreiert. Wissenschaftler, wie Christian Drosten, werden stark angefeindet. Verschwörungstheoretiker und Impfgegner nutzen diese Stimmung im Netz gezielt für ihre Propaganda. Viele Menschen springen auf, weil es zurzeit diese hohe Emotionalisierung gibt und viel weniger rational überlegt wird. Das ist eine toxische Mischung. Gerade gegen Frauen hat die Gewalt im Netz in den letzten Monaten deutlich zugenommen, so wie die häusliche Gewalt auch.
Nein, das war auch schon vorher der Fall. Was stark auffällt: Mädchen und Frauen erhalten viel heftigere Inhalte zugeschickt als Männer, etwa Vergewaltigungsandrohungen. Die sexualisierte Gewalt ist bei Frauen im Netz viel massiver. Sie werden besonders intim und privat angegriffen. Ich habe bisher keinen weißen heterosexuellen Mann in der Beratung gehabt, der eine Vergewaltigungsandrohung erhalten hat. Männer bekommen auch keine Nacktfotos von weiblichen Geschlechtsteilen zugeschickt. Das passiert Frauen und Mädchen viel öfter - und in der Pandemie nochmals verstärkt, gerade auch in den öffentlichen Debatten.
Genau. Sobald eine Frau sich engagiert und sich öffentlich äußert, erfährt sie Hass, Beleidigungen, Anfeindungen. Es werden nicht nur Nacktfotos, sondern auch Fake-Zitate geteilt, wie bei Renate Künast (Grüne). In einer Umfrage mit kommunal Engagierten haben wir feststellen müssen, dass diese besonders stark betroffen sind. Im Gegensatz zu einer Bundestagsabgeordneten hat eine Kommunalpolitikerin im Ehrenamt allerdings kein großes Team hinter sich, das Falschnachrichten und Beleidigungen im Netz meldet. Sie haben keine Ressourcen, alles zu blockieren und zu löschen. Viele Frauen ziehen sich dann zurück.
Teilweise ja, einige löschen sogar ihre Facebook- oder Twitter-Accounts. In einer Studie von Plan International gaben fast 40 Prozent der Mädchen und Frauen an, dass sie aufgrund der Beleidigungen, Bedrohungen und Diskriminierungen die Social-Media-Plattformen seltener nutzen oder sich sogar komplett aus den Netzwerken zurückziehen. Das nennt man auch den Silencing-Effekt, das Stummschalten. Außerdem: 54 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer von sozialen Medien trauen sich allein als Zuschauerinnen und Zuschauer nicht mehr, ihre politische Meinung im Netz zu sagen, weil sie Angst haben, selbst betroffen sein zu können. Und was auffällt: Bei bestimmten Reizthemen werden Frauen besonders angegriffen.
Das sind etwa feministische oder antirassistische Themen. Zahlreiche Frauen äußern sich dann nicht mehr zu eben diesen Themen, aufgrund der Angriffe. Generell kann man sagen: Eine Frau, die heute in die Öffentlichkeit geht und sich politisch äußert, ist nicht mehr sicher. Ein Beispiel: Anfang dieses Jahres wurde eine junge CDU-Politikerin von einem bekannten Medium interviewt. Daraufhin wurde sie in den sozialen Medien zerrissen. Es ging dabei nicht um politische Inhalte, sondern um ihre Brüste, darum, ob sie „fickbar" sei. Als Konsequenz hat sie sich erstmal zurückgezogen und wird sich sicherlich noch einmal überlegen, ob sie Interviews geben wird. Das ist eine gefährliche Entwicklung.
Mithilfe der digitalen Gewalt wird versucht, Frauen in politischen Ämtern aus ihrer Position zu drängen. Das sind bestimmte Gruppen, etwa aus der rechtsextremen Ecke, die gezielt diese Frauen angreifen. Auch trans Menschen oder Schwarze Menschen sind Zielscheibe solcher Angriffe. Bestimmte Stimmen und Perspektiven werden durch den Hass im Netz aus dem öffentlichen Raum verdrängt - das ist höchst demokratiefeindlich.
Die Inhalte bei den jeweiligen Plattformen melden, selbst löschen und blockieren. Aber es lohnt sich auch immer, eine Anzeige zu erstatten. Wenn man sich nicht wehrt, passiert gar nichts. Gerade bei Beleidigungen, Bedrohungen, Verleumdungen kann man zivilrechtlich vorgehen, einen Anwalt beauftragen, um gegen den Täter vorzugehen.
Der erste Schritt ist, eine Unterlassungserklärung zu erwirken. Das bedeutet, dass die Person ihre Beleidigung oder das Falschzitat aus dem Netz löscht und garantiert, dass sie das nicht mehr behaupten wird. Im zweiten Schritt kann man Schmerzensgeld verlangen. Der Anwalt, die Prozesskosten - all das kostet allerdings mehrere Tausend Euro. Falls die Betroffenen vor Gericht verlieren, müssen sie zusätzlich die Kosten der Gegenseite zahlen. Wer kann sich das leisten? Daher haben wir auch HateAid gegründet. Wir unterstützen die Betroffenen durch unsere Kanzleien und übernehmen die Kosten für die Fälle, die Erfolgsaussichten haben.
Letztlich geht es darum, ob die Täter identifiziert werden können. Wir arbeiten dafür mit einer spezialisierten Staatsanwaltschaft zusammen, der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internet- und Computerkriminalität (ZIT). Ein Drittel der Fälle, die wir bei der ZIT anzeigen, wird auch identifiziert. Man kann sich dann entweder mit dem Täter außergerichtlich einigen, was in einigen Fällen passiert, weil es für die Täter teurer wird, wenn sie mit einem Anwalt vor Gericht gehen. Bei Beleidigungen und Vergewaltigungsandrohungen haben die Betroffenen vor Gericht gute Chancen, erfolgreich zu sein. Doch in den meisten Fällen kann man die Täter eben nicht identifizieren.
Die Social-Media-Plattformen, die viele Daten über die Täter haben, geben diese nicht heraus, weil sie dazu nicht verpflichtet sind. Denn die Firmen der Social-Media-Seiten sitzen alle nicht in Deutschland. Unsere Strafverfolgungsbehörden sind von der Gnade der Plattformen abhängig. Es kann nicht sein, dass in Deutschland eine Straftat begangen wird, aber unsere Gerichte und Staatsanwälte die nicht verfolgen können. Das ist absurd. Für die Strafverfolgungsbehörden ist das eine absolute Katastrophe. Wir versuchen jetzt verstärkt mit dem Landecker Digital Justice Movement dagegen vorzugehen. Auch für Plattformen müssen Regelungen gelten.
Aktuell klagt Renate Künast mit uns gemeinsam gegen Facebook, damit die Plattform ein Falschzitat von ihr löscht, das immer noch vielfach geteilt wird. Als Privatperson kommt man nicht hinterher, in allen Gruppen, auf allen Seiten das Zitat selbst zu löschen und zu blockieren. Die Plattformen müssen dafür verantwortlich gemacht werden. Bisher läuft die Klage noch.
Bei unserer Klage geht es nicht nur um Künast. Wir wollen mit dieser Klage Facebook dazu bringen, generell Betroffene zu unterstützen, wenn sie von Hasskommentaren und Fake-Zitaten betroffen sind. Wir werden diese Klage weiterführen, die Alfred-Landecker-Foundation unterstützt uns dabei. Dank der Stiftung haben wir genug Geld, um zu sagen: Wir gehen bis in die letzte Instanz. Betroffene brauchen nicht nur bei Facebook, sondern am besten auf allen Social-Media-Plattformen, Schutz - das wollen wir erreichen.
Glauben Sie, dass die Politik in Deutschland genug gegen die digitale Gewalt unternimmt?Wir haben in Deutschland zumindest das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), das 2017 ins Leben gerufen wurde. Es soll dafür sorgen, dass Facebook, Twitter und Co. illegale Aussagen möglichst schnell aus dem Netz nehmen. Das Gesetz ist nicht perfekt, geht aber schon einmal in die richtige Richtung. Wir brauchen aber auch Lösungen auf europäischer Ebene.
Gerade wird in Brüssel der Digital Services Act verhandelt. Da geht es auch darum, welche Rechte Nutzer gegenüber den Plattformen haben. Doch im ersten Entwurf der Kommission wurde die Lage der Betroffenen von digitaler Gewalt überhaupt nicht mitgedacht. Wir haben deswegen auch ein Büro in Brüssel eingerichtet mit einer Mitarbeiterin, die mit uns vor Ort Lobbyarbeit macht. Wir fordern: Wenn Beleidigungen, Verleumdungen im Netz geteilt werden, diese illegal sind und man diese den Plattformen meldet, müssen Nutzer klare nachvollziehbare Rechte haben, um die Löschung auch durchzusetzen.
Ja, das bin ich. Es muss sich etwas ändern. Die Social-Media-Kanäle sind keine sicheren Räume. Wenn Sie auf der Straße angegriffen werden, rufen Sie die Polizei. Im Netz kommt oft keiner oder viel zu spät. Dabei verbringen wir, gerade in der Pandemie, sehr viel mehr Zeit im Netz. Es müssen die gleichen Rechte und Standards wie im echten Leben gelten. Und eben das müssen wir auch als Gesellschaft durchsetzen. Es kann auch nicht sein, dass wir die einzige Beratungsstelle für digitale Gewalt in Deutschland sind. Es braucht mehr Unterstützung, damit die Betroffenen die Gerichtsprozesse führen können. Wir werden durch Spenden finanziert, aber die Mittel sind endlich. Sein eigenes Recht durchzusetzen, darf nicht vom Geldbeutel abhängen.