Elena Matera

Journalistin (Wissenschaft & Gesellschaft), Berlin

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Artikel

Experte: „Das Artensterben wird auch unseren eigenen Wohlstand gefährden"

Berlin - Ein Leberblümchen auf dem braunen Waldboden - das erste Zeichen für den einsetzenden Frühling. Auch wenn das wild wachsende Leberblümchen mit den blauvioletten Blüten schön anzusehen ist, könnte die zierliche Pflanze bald verschwunden sein. In Berlin ist es mittlerweile vom Aussterben bedroht. Ein Grund: Der Verlust lichter Laubwälder, seinem Lebensraum. Letzte Vorkommen gibt es laut der Stiftung Naturschutz Berlin nur noch im Norden Berlins. Wie lange das Leberblümchen noch in der Hauptstadt überleben wird, ist ungewiss.


Das Aussterben des Leberblümchens scheint auf den ersten Blick nicht sehr brisant zu sein. Für einen anschaulichen Einstieg des Artikels wäre sicherlich das Aussterben des chinesischen Tigers oder des Java-Nashorns geeigneter gewesen. Doch auch das Verschwinden des Leberblümchens ist relevant. Warum, soll in den folgenden Absätzen erklärt werden.



Das Artensterben betrifft zahlreiche Pflanzen und Tiere weltweit. Umwelt- und Tierschutzorganisationen wie der World Wide Fund For Nature (WWF) und der Naturschutzbund (Nabu) warnen vor dem größten Artensterben seit dem Ende der Dinosaurier-Zeit. Etwa eine Million der Tier- und Pflanzenarten werden im Laufe der nächsten Jahrzehnte vom Aussterben bedroht sein, wenn der Mensch seine Lebensweise nicht gravierend ändere, heißt es im Bericht des Weltbiodiversitätsrats IPBES von 2019. Rund 37.500 Tier- und Pflanzenarten gelten laut Roter Liste der Weltnaturschutzunion IUCN als vom Aussterben bedroht.


„Das Artensterben ist hochgradig dramatisch", meint Arnulf Köhncke, Ökologe und WWF-Artenschutzexperte in Berlin. „Natürlich sind in der Geschichte der Erde immer wieder Arten ausgestorben. Aber zurzeit sehen wir, dass Arten fast 1000-mal schneller aussterben, als ohne den Einfluss des Menschen."


Die Hauptursache für das Artensterben sei der Mensch, so Köhncke. „Wir zerstören Lebensräume, weil wir sie in Ackerland, Plantagen oder Städte umwandeln", erklärt der Artenschutzexperte. Eine weitere Hauptursache für das Artensterben sei die Übernutzung: die Überfischung der Meere, das Abholzen von Wäldern, die unkontrollierte Wilderei. Auch invasive Arten zählen zu den Ursachen des Artenrückgangs. Der Grund: Die invasiven Arten treten mit den natürlich vorkommenden Arten in Konkurrenz um Lebensraum und Ressourcen. Sie können so Arten verdrängen und ganze Artengemeinschaften stören.


Auch die Umweltverschmutzung ist eine Ursache für das Artensterben: etwa das Plastik im Meer und in den Böden, der Pestizideinsatz in der Landwirtschaft oder die zunehmende Luftverschmutzung. Und die fünfte Ursache für den Rückgang der Arten ist letztendlich die Klimakrise, die weltweit nicht nur Pflanzen und Tiere unter Druck setzt, sondern auch uns Menschen.


„Wir können die Klimakrise und die Artenkrise nicht unabhängig voneinander betrachten, sie hängen zusammen", erklärt Köhncke. Die Klimakrise beschleunige den Rückgang der Artenvielfalt. Gleichzeitig vermindere das Verschwinden der Arten die Anpassungsfähigkeit der Ökosysteme. „Wenn bestimmte Tiere und Pflanzen im ökologischen Netzwerk fehlen, dann sind die Systeme gestresst und instabil. Nur gesunde Ökosysteme mit einer intakten Artenvielfalt können sich besser an den Klimawandel anpassen", so Köhncke.


Ein Beispiel ist der Afrikanische Waldelefant, der vom Aussterben bedroht ist. Dabei ist er ein wahrer Klimaschützer. Denn der Waldelefant beseitigt unter anderem zugewachsenes Gebüsch. Dadurch können Bäume wiederum besser wachsen und so mehr Kohlenstoff speichern. Wenn die Populationen der Afrikanischen Waldelefanten zu ihrer früheren Größe zurückkehren und sie ihr Verbreitungsgebiet wiedererlangen würden, könnten laut WWF mehr als 600 Tonnen Kohlenstoffdioxid pro Quadratkilometer gespeichert werden. Wissenschaftler haben berechnet: Wenn der Waldelefant verschwindet, würden drei Milliarden Tonnen Kohlenstoff nicht gespeichert werden können.


Der Waldelefant hilft also beim Klimaschutz. Aber was ist mit den anderen Arten, etwa dem Leberblümchen? Warum wäre es so tragisch, wenn solch eine Pflanzenart aussterben würde? „Die Artenvielfalt ist enorm wichtig, egal um welche Art es geht. Denn alles hängt letztendlich miteinander zusammen. Vieles verstehen auch wir noch nicht", erklärt Justus Meißner von der Stiftung Naturschutz Berlin. Die zentrale Aufgabe des Leberblümchens: Es ist ein wichtiger Pollenlieferant für Bienen, Käfer und Schwebfliegen.


„Wälder speichern Kohlenstoff, Wildbienen bestäuben Blüten spezieller Pflanzen, Insekten nutzen bestimmte Pollen als Nahrungsquelle. Auch Käfer und Schmetterlinge sind auf verschiedene Pflanzenarten angewiesen", so Meißner. „Wenn eine Art stirbt, hat es immer auch Auswirkungen auf andere Pflanzen- und Tierarten und damit auf das gesamte Ökosystem."


Welche, sei nicht immer klar. Der Grund: Man kenne noch längst nicht alle Arten und damit auch nicht alle Abhängigkeiten zwischen den Arten. Nach derzeitiger Schätzung könnte es um die 15 Millionen Tier-und Pflanzenarten weltweit geben, von denen aber bislang nur etwa 1,8 Millionen bekannt und wissenschaftlich beschrieben sind. Mehr als die Hälfte davon sind Insekten.


„Es werden sicherlich auch Arten verschwinden, ohne dass wir sie kennengelernt haben", erklärt Ansgar Poloczek vom Nabu in Berlin. Gerade die Insekten seien sehr stark untererfasst. „Allein in Berlin sind fast 60 Prozent der bekannten Pflanzenarten bereits ausgestorben, vom Aussterben bedroht oder gefährdet", so Justus Meißner von der Stiftung Naturschutz Berlin.


Große Sorgen machen sich Naturschützer vor allem um die Amphibien in Berlin. „Gerade bei den Amphibien sind sämtliche Arten gefährdet und haben stark abnehmende Tendenzen, das gilt auch für einstmals häufige Arten wie Teichfrosch und Erdkröte", sagt Poloczek. Aber auch die Bestände bestimmter Käferarten und Tagfalter würden zurückgehen.


Wie das Leberblümchen erfüllen auch die Käferarten, Teichfrösche und Tagfalter bestimmte Aufgaben im Ökosystem. Welche Folgen ihr Verschwinden bedeuten würde, könne keiner genau abschätzen. Fest stehe: Eine reiche Artenvielfalt sichere letztendlich das Überleben der Menschen, so Poloczek.


Fruchtbare Böden, die Regulation der Luftqualität, die Verfügbarkeit von Süßwasser oder der Schutz vor Extremereignissen - all das haben wir Menschen gut funktionierenden Ökosystemen mit einer reichen Artenvielfalt zu verdanken. Auch unsere Ernährung könnte mit dem Artenverlust zunehmend gefährdet werden. Zwei Drittel der hundert weltweit wichtigsten Nutzpflanzen sind ganz oder teilweise abhängig von der Bestäubung durch Insekten. Sterben diese aus, wachsen auch die Nutzpflanzen nicht mehr, die wir für unsere Ernährung benötigen.


Der Rückgang der Biodiversität könnte sich aber auch auf unsere Gesundheit auswirken. Wissenschaftlern zufolge profitiert insbesondere die mentale Gesundheit von einem größeren Artenreichtum. Das ergab eine Studie unter Leitung des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv), des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums (SBiK-F) und der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Auch in der Medizin stammt ein großer Anteil der Antibiotika aus der Natur. Ein Aussterben bestimmter Pflanzenarten hätte somit weitreichende Folgen.


Die Experten des Weltbiodiversitätsrats schätzen zudem, dass 1,7 Millionen derzeit unentdeckte Viren in Säugetieren und Vögeln schlummern. Aufgrund der schrumpfenden Lebensräume der Wildtiere werden Pandemien in Zukunft häufiger auftreten, vermuten die Experten. Auch das Coronavirus wurde vermutlich von Fledermäusen über einen Zwischenwirt auf den Menschen übertragen.


Der Rückgang der Lebensräume und das Verschwinden der Arten bedeutet also nicht nur, dass wir irgendwann keine Luchse, Leberblümchen und Tagfalter haben - es gefährdet unsere Lebensgrundlagen. Das Verschwinden der Arten ist laut Matthias Glaubrecht, Professor für Bio­diversität und Direktor des Centrums für Naturkunde (CeNak) in Hamburg, daher sogar weitaus bedrohlicher als der Klimawandel.


Doch wie kann man gegen das Artensterben vorgehen? 2010 setzten sich 190 Staaten bei der Uno-Konferenz von Nagoya in Japan 20 Ziele bis zum Jahr 2020, um das Artensterben zu verhindern. Unter anderem sollte der Verlust natürlicher Lebensräume begrenzt, die Überfischung beendet und das Aussterben von auf der Roten Liste stehenden Arten verhindert werden. Die ernüchternde Erkenntnis 2020: Keines der Ziele wurde erreicht.

„Die Lage ist zwar dramatisch. Das Gute daran ist: Wir sind die Verursacher des Artensterbens. Also können wir es auch stoppen", so WWF-Artenschutzexperte Köhncke. Und das gelinge vor allem mit einem „ambitionierten Naturschutz". Auf der diesjährigen Weltbiodiversitätskonferenz im chinesischen Kunming im Oktober soll dazu unter anderem das globale Ziel, 30 Prozent der Landes- und Meeresflächen bis 2030 unter Schutz zu stellen, offiziell verabschiedet werden.


Auch in Berlin sei die Ausweitung und die Kontrolle von Schutzgebieten nötig, sagt Poloczek vom Nabu. Man dürfe nicht immer mehr versiegeln, sondern müsse auch den Naturschutz in der Stadtplanung berücksichtigen. „Die Grünflächen müssen erhalten bleiben. Da ist die Politik gefragt", sagt Poloczek.


Ambitionierter Naturschutz allein reiche allerdings nicht aus. „Wir brauchen eine Transformation unserer Wirtschafts- und Finanzsysteme. Wir müssen unsere Produktion, unseren Konsum auf mehr Nachhaltigkeit umstellen", erklärt Köhncke. Die Wirtschaft nehme daher auch eine große Rolle zum Erhalt der Artenvielfalt ein. Deutschland ist als eine der führenden Wirtschaftsmächte laut Köhncke in der Verantwortung, auch ein Vorbild für andere Länder zu sein, etwa in der Energie- und Verkehrswende.


„Was vielen nicht klar ist: Unser eigener Wohlstand hängt von der Natur ab. Der Verlust der Artenvielfalt zählt zu den fünf größten Risiken für die globale Wirtschaft", so Köhncke. „Ein Weiter-so ist daher gar keine Option. Auf Dauer wird das Artensterben unseren eigenen Wohlstand gefährden."

Der Artenschutz sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. „Je mehr Menschen etwas unternehmen, desto mehr bewirkt man. Grundsätzlich kann jeder etwas für die Artenvielfalt tun", sagt Poloczek.

Statt Geranien und Stiefmütterchen könnten Berlinerinnen und Berliner einheimische Pflanzen, wie Wilder Salbei, Gundermann und Margeriten, pflanzen. Diese produzieren auch Nektar für Bienen. Im Garten soll man der Natur Raum lassen und schauen, was sich natürlicherweise entfaltet.


„Das Artensterben findet vor unserer eignen Haustür statt - das ist vielen nicht bewusst", sagt Poloczek. Sollte man seiner Meinung nach mehr über Pflanzen wie das Leberblümchen sprechen? „Es ist eine Strategie, dass wir beim Artenschutz eher über größere Tiere sprechen, anstatt über Pilze und Pflanzen", so Poloczek. Das habe einen entscheidenden Grund, erklärt der Naturschützer. Denn wenn man den Lebensraum eines bekannten Tieres, etwa des Luchses, schütze, dann sichere man gleichzeitig ihre Lebensräume und damit auch die anderen dort beheimateten Arten: Insekten, Pilze, Flechten - und das Leberblümchen.

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