Eileen Kelpe

freie Journalistin, Reporterin, München

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Artikel

So wie Gott mich schuf - Über Lebensgrenzen

Von Eileen Kelpe und Fabian Stanco

Als Sabine Estner ein Kind war, las sie die Frauenzeitschriften ihrer Mutter und half beim Backen und Bügeln. Sie interessierte sich auch für Technik, hatte Pilotinnen und Astronautinnen als Vorbild. Wie viele Kinder in den 70er Jahren trug sie eine Pilzkopf-Frisur wie bei den Beatles. Sie engagierte sich in der Kirche, ging auf eine Klosterschule, ministrierte, sang im Kirchenchor und leitete später Jugendgottesdienste. Viele sahen in ihr etwas Mädchenhaftes: ihr Aussehen, ihr Verhalten. Ein Mitschüler sprach sie mit dem Pronomen „sie" an. Doch Estner war damals vom biologischen Geschlecht kein Mädchen, sondern ein Junge.

„Ich habe einfach gelebt, wie ich mich gefühlt habe", erzählt sie. „Als Kind denkt man ja nicht darüber nach: Wie ist jetzt ein Junge? Wie ist ein Mädchen? Man lebt einfach authentisch." Doch in ihrem Umfeld waren diese Kategorien klar definiert: Aufgewachsen in einer streng katholischen Familie war es damals leicht zu unterscheiden, wie eine Frau und ein Mann zu sein haben. Alles, was davon abwich, galt als falsch. Ihr Vater prügelte sie, wollte mit harten Schlägen einen harten Jungen aus ihr machen und ihr das Feminine austreiben, erzählt Estner. Was sie falsch gemacht hatte, verstand sie nicht. Dafür gab es in ihrem Umfeld damals noch keine Worte und Beschreibungen.

Im falschen Körper

Sabine Estner hört den Begriff „Transidentität" das erste Mal mit Anfang dreißig in den 90er Jahren. Sie hat eine Dokumentation über eine Trans-Frau gesehen, die ihr Geschlecht operativ verändern lassen hat. „Da sind mir die Augen aufgegangen. Da habe ich gemerkt, das ist es bei mir", erzählt Estner. Das Wort Transidentität bedeutet, dass das Geschlecht, das einem Menschen bei der Geburt zugewiesen wird, nicht mit der Geschlechtsidentität übereinstimmt. Viele beschreiben es mit dem Gefühl im falschen Körper zu leben.

Verlässliche Zahlen gibt es kaum. Das Statistische Bundesamt hat 2155 Personen erfasst, die sich im Jahr 2020 in Deutschland einer geschlechtsangleichenden Operation unterzogen haben. Doch längst nicht alle transidenten Menschen lassen sich operieren. Internationale Studien gehen davon aus, dass in Deutschland ungefähr 0,6 Prozent der Gesamtbevölkerung transident ist. Doch auch hier sind die Berechnungen vage.

Für Estner gab es viele kleine Situationen, in denen sie gemerkt hat, dass da irgendwas anders ist. Dass die Rollen irgendwie vertauscht waren, vor allem in Beziehungen mit Frauen. Sie war diejenige, die im Kino bei einem romantischen Film geweint hat. Beim Kaffee bei der Tante ist der Hund, der keine Männer mag, zu ihr gekommen. In der Summe waren diese Anzeichen für sie eine Bestätigung, dass sie eine Frau in einem Männerkörper war. Sie fand erstmals Worte, die das Gefühl beschrieben, das sie seit jeher verunsicherte. Doch gleichzeitig machte es ihr Angst. „Damals hatte ich überhaupt keinen Mut mich zu outen", sagt sie. „Für mich wäre das furchtbar gewesen."

Die Grenze des Glaubens

„Ich habe immer versucht den Gotteswillen in meinem Leben zu erforschen", sagt Estner. Der christliche Glaube ist ein wichtiger Teil in ihrem Leben. Er gehört seit ihrer Kindheit zu ihrer Identität. Auch während ihres Elektrotechnikstudiums besuchte sie Theologievorlesungen, Wallfahrten, arbeitete für einen christlichen Radiosender, gründete Bibelkreise und setzte sich intensiv mit ihrem Glauben auseinander. Doch es gab einen Widerspruch, den sie nicht auflösen konnte: Die immer stärker werdende Transidentität konnte sie nicht mit ihrem Umfeld und der Kirchenlehre vereinen.

Im Katechismus steht: „Jeder Mensch, ob Mann oder Frau, muss seine Geschlechtlichkeit anerkennen und annehmen." (Katechismus der Katholischen Kirche 2333) Die Kirche geht dabei von einem binären Geschlechterverhältnis aus und fordert, das biologische Geschlecht anzuerkennen. Dass ein Mensch sich nicht mit diesem Geschlecht identifiziert, ist nicht vorgesehen und wird meist nicht akzeptiert. So erlebte es Estner. Sie vertraute sich einem Geistlichen an, doch dieser sagte ihr deutlich, dass es keine Transidentität gebe. Um seine Ablehnung zu verdeutlichen, tat er ihr daraufhin Gewalt an, missbrauchte sie sexuell.

„Ich dachte: Im Kloster ist es egal, was ich bin. Doch ich habe dann festgestellt, dass dem nicht so ist."

Sabine Estner

„Dadurch, dass andere es abgelehnt haben, habe ich auch versucht es abzulehnen. Ich dachte immer, dass es falsch ist", erzählt sie. Die Transidentität war für sie wie eine Krankheit, die sie versuchte zu heilen. Schließlich floh sie davor und ging Ende der 90er in ein ökumenisches Kloster - und blieb mehr als vierzehn Jahre. „Für mich war das eine Flucht vor der Transidentität. Ich dachte: Im Kloster ist es egal, was ich bin. Doch ich habe dann festgestellt, dass dem nicht so ist", sagt sie. Sie versuchte alle möglichen Methoden, die Transidentität abzulegen: Exorzismus, Heilgottesdienste, Handauflegen, Gebete, Salbung, Therapien. Doch das alles bewirkte nichts.

Die Grenze des Körpers

Das Gefühl, dass sie eigentlich schon immer eine Frau war, wurde immer stärker. „Es hat immer lauter in mir geschrien, aber im Kloster durfte ich nicht darüber reden", erzählt sie. „Ich musste aus dem Kloster raus. Sonst wäre ich kaputt gegangen." Was folgte, war ein jahrelanger Prozess zwischen Heilungsversuchen, Verdrängung und dem Versuch, sich selbst und das Leben als Mann zu akzeptieren.

Nach dem zweiten Burnout begab sich Estner in psychologische Behandlung. Ihr wurde klar, dass sie sich um ihre Transidentität kümmern musste, dass sie zu ihr gehörte. Auch die Kategorien „richtig" und „falsch" bewertete sie neu: „Ich musste diese Grenze überschreiten und erkennen, dass das, was mir beigebracht wurde, falsch war. Auch anhand der Bibel." Sie wurde von Glaubenszweifeln geplagt, warf Gott vor: „Warum hast du mich so erschaffen?" Doch mit der Zeit schöpfte sie Kraft im Gebet, in ihrem Glauben und las viele Bibelstellen nochmal neu - bis sie ihren Weg auch als gottgewollt annehmen konnte und zu dem Schluss kam: „Gott liebt mich. Gott hat mich so geschaffen."

Die Transition, also der Übergang vom männlichen zum weiblichen Geschlecht, wozu in ihrem Fall Hormonbehandlung, Operation, Vornamensänderung und die Kleidung zählen, war ein schwieriger Prozess, der auch mit großen Ängsten verbunden war, sich jedoch als existenziell erwies. Im Dezember 2021 hat sie sich der geschlechtsangleichenden Operation unterzogen. „Wenn ich den Weg nicht gegangen wäre, dann würde es mich nicht mehr geben. Ich weiß, dass die Suizidrate bei transidenten Menschen sehr hoch ist. Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich noch lebe. Aber mir war irgendwann klar: Entweder lebe ich als Frau oder gar nicht."

Ein Leben als Frau

Sabine Estner ist heute 56 Jahre alt und arbeitsunfähig, unter anderem auch, weil die seelischen Narben, die das Leben hinterlassen hat, nur langsam verheilen. Ihr Haar ist schulterlang und kastanienbraun gefärbt. Sie trägt ein blaues Sommerkleid und ihre Lippen sind himbeerrot geschminkt, die Augen mit einer dünnen Kajal-Linie umrandet. Für sie ist ihr Aussehen und ihre Außenwirkung wichtig: „Ich möchte als Frau wahrgenommen werden und nicht als verkleideter Mann."

Sie schminkt sich, wenn sie aus dem Haus geht, nicht zu viel, aber so, dass sie sich sicherer fühlt. Sie hat Angst, dass Leute sie anpöbeln oder komisch anschauen. Diese Blicke gibt es, auch setzen sich manchmal Menschen in der S-Bahn von ihr weg. Aber gleichzeitig wird sie von vielen auch als der Mensch gesehen, der sie heute ist und der sie sein möchte.

„Für mich war diese Entscheidung eine Erlösung."

Sabine Estner

Ein Schlüsselerlebnis war eine Geburtstagsfeier, auf der sie eingeladen war: „Es waren nur Frauen eingeladen. Das war für mich etwas sehr Schönes, weil ich wie selbstverständlich dazugehörte. Ich habe gedacht: Ich bin angekommen." Die vollzogene Transition war dafür ein wichtiger Schritt: „Für mich war diese Entscheidung eine Erlösung", sagt sie. Auch der Kirche ist sie wieder zugewandt, engagiert sich in einem Queer-Gottesdienst und hat eine Gemeinde gefunden, die sie akzeptiert. Es sind kleine Schritte in eine neue, manchmal noch ungewohnte Normalität für sie. Doch sie ist zuversichtlich. Sie kann sich mittlerweile selbst lieben. Als Sabine. Und sie weiß, dass der Gott, an dem sie glaubt, sie so liebt, wie sie ist.

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