Es ist ein heißer Sommertag im Juni, und Alex Honnold hält sich in 700 Metern über dem Boden am Felsvorsprung El Capitan fest. Unter ihm liegt das Yosemite-Tal, Kalifornien, 300 Kilometer von San Francisco entfernt. Senkrecht abfallende Flanken, steile Talwände, tiefe Schluchten. Die Kronen der Riesenmammutbäume sind nur mehr Stecknadelköpfe. Honnolds T-Shirt ist verschwitzt, die Fingerkuppen verhornt. Aus seinem Smartphone tönt Rockmusik. Noch einmal greift er mit der freien Hand in die verstaubte Tasche, die an seinem Gürtel hängt. Der Kalk fällt auf seine Hose und macht Flecken. Honnold streckt seinen Arm aus, greift den nächsten Felsen und zieht sich hoch.
Vier Monate später. Der Rücken gebeugt, die Schultern angezogen, die braunen Augen blicken müde ins Sonnenlicht. Die Hände vergräbt er in den Taschen seiner schwarzen Hose, auf der noch ein paar Kalkflecken zu erkennen sind. Die stammen vom Tag zuvor, als er mit der Südtiroler Kletterlegende Hans Peter Eisendle in den Dolomiten unterwegs war. Die Kappe hat Honnold tief ins Gesicht gezogen, darunter schauen die verstrubbelten Haare hervor. Er blickt sich um. Hinter ihm: stilles Bergpanorama. Das Villnößtal, die Geislerspitzen, am Horizont das Grödner Tal. Vor ihm: die Blitzlichtgewitter der zahlreichen Kameras. Sie sind alle auf ihn gerichtet.
Spätestens seit dem 3. Juni, als Alex Honnold die 1.000-Meter-Route „Freerider“ am El Capitan im kalifornischen Yosemite-Nationalpark ohne Absicherung geklettert ist, ist er ein Star. Ein Held. Alex Honnold – der verrückte Free-solo-Kletterer. Alex Honnold – der dem Tod in die Augen blickt und keine Angst hat. Alex Honnold – der auch in 1000 Metern Höhe ohne Seil auf seinem Smartphone die Musik auf Pause stellt, wenn er sich gerade etwas mehr konzentrieren muss.
Sechs Wochen lang ist Honnold immer wieder im Fels. Mit Seil, mit Absicherungen, mit Ideen, mit Notizen, die er sich am Abend macht. Wo muss in 365 Meter Höhe der rechte Fuß hin? In welchem Riss wächst Moos, das er noch entfernen muss? Mehr als fünfzig Mal klettert er die Route. So lang, bis jeder Griff sitzt und sich das Risiko aus dem Staub macht. Und dann ist er da, der Tag, an dem er weiß: Jetzt habe ich alles gelernt, alles vorbereitet. Mental ist er so stark wie nie zuvor. Er lässt sein Seil zu Hause, zieht seine Kletterschuhe, seine kurze Hose, sein Shirt an und steigt in den Fels ein. Ein falscher Tritt bedeutet den Tod. Honnold klettert die Route „Freerider“ am El Capitan free-solo – ohne Absicherung, ohne Fehler. Nur mit einem Täschchen Kalk am Gürtel. Für die Hände, damit er nicht abrutscht.
Auf der Plose in den Dolomiten braucht er keine Absicherung. Die Wanderung mit der Presse ist ein gemütlicher Spaziergang. „Was gibt es Schöneres?“, fragt er rhetorisch. „Wenn man sein Geld mit Klettern verdient, gehört es eben dazu, dass man viele Fragen beantwortet und mit Journalisten auf Wanderungen geht.“ Er senkt seinen Kopf und lacht. Für einen Spruch ist Alex Honnold immer zu haben, mit Witz, Charme und seiner Offenheit hat er die Leute schnell auf seiner Seite. Aber er findet es auch komisch, dass sich andere so sehr für ihn interessieren.
„Ich bin ein ganz normaler Mensch. Und solch einen Medienrummel kenne ich eigentlich nicht.“ In den USA gäbe es nicht so viele Journalisten, die aus verschiedenen Ländern kämen, um ihn zu treffen. Er findet nicht, dass er erfolgreich ist. Er findet auch nicht, dass es besonders außergewöhnlich ist, was er tut. Denn Free-solo-Klettern – das mache nur fünf Prozent seiner gesamten Begehungen aus. Die meiste Zeit ist er in den Bergen mit Seil wie jeder andere unterwegs. Und überhaupt, es gebe so viele Bergsteiger-Legenden, die viel besser seien als er. Honnold gibt sich bescheiden, seinen Erfolg spielt er runter. Vielleicht nennen ihn seine Freunde gerade deshalb Alex „No Big Deal“.
Aufgewachsen ist er im kalifornischen Sacramento. Ein schüchternes, dünnes Kind mit großen Ohren, das am liebsten auf Bäume kletterte. Honnold hatte kaum Freunde und lebte in seiner eigenen Welt. Im Klettern fand er ein Zuhause, etwas, das Spaß machte, bei dem er sich leicht fühlte.
Mit elf kletterte er das erste Mal in einer Halle nicht weit von seinem Elternhaus entfernt. Er wollte so cool sein wie sein großes Vorbild Peter Croft, ein kanadischer Bergsteiger. Dass Honnold jemals so free-solo würde klettern können wie er, daran hat er nie geglaubt. Doch den Ehrgeiz hat er immer gehabt. Und die Leidenschaft. „Wenn du die nicht hast, wird es ganz schwierig für dich in den Bergen“, sagt er beim Spaziergang auf der Plose.
Als Jugendlicher ging er fast täglich in die Halle, lernte und entwickelte sich. Irgendwann ließ er das Seil mal weg, stieg immer höher, ein kleines Stückchen, dann noch eins. Und irgendwann war klar: Er will ihn klettern, den „Freerider“ am El Capitan. Das war der größte Schritt in seinem Leben.
Nach drei Stunden und sechsundfünzig Minuten ist er oben, 1000 Meter über dem Yosemite-Tal. Er lacht, zieht die Schuhe aus und umarmt den erleichterten Jimmy Chin. Der Mensch, der vier Stunden die Kamera auf ihn gehalten hat. Alex Honnold hat es geschafft. Als erster Mensch kletterte er einen der großen Big-Walls am El Capitan im Yosemite-Tal free-solo. Als er seine Mutter anruft, ist sie froh und sagt: „Danke, dass du mir vorher nichts davon erzählt hast.“
„Es ist nicht so, dass ich immer weitermache, so lange, bis etwas passiert“, sagt er vor dem Bergpanorama in den Dolomiten. Alex Honnold sieht etwas anderes in seinem Tun. Es gibt ihm Energie und Freude. Er fühlt sich nicht wie ein Adrenalinjunkie. „Ich glaube nicht, dass ich das ewig machen werde“, sagt er. „Aber wenn ich aufhöre, dann nicht wegen des Risikos. Wenn ich aufhöre, habe ich wahrscheinlich die Liebe dafür verloren.“
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