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Syrien: Assad rückt auf Provinz Idlib vor

Assads Truppen erobern nach und nach die letzte Rebellenregion Syriens zurück. Die, die es sich leisten können, fliehen in andere Städte. Doch dort warten weitere Probleme.

Ghada Bakir ist auf Wohnungssuche. Von morgens bis abends fährt sie mit dem Auto von Dorf zu Dorf. Aber rund um die syrische Stadt al-Bab, östlich von Aleppo, sind alle Wohnungen überbelegt. Es ist kalt, es regnet, Ghada Bakir ist seit acht Uhr auf den Beinen, sie klingt erschöpft.

Osama Zreak hat vorübergehend eine Unterkunft für sich, seine Frau und die fünf Kinder gefunden. Sie sind in Richtung der türkischen Grenze geflohen und leben nun in einem 20-Quadratmeter-Zimmer nahe der Stadt Jandariz. In einem Raum, den sie mit vier Familien teilen. "Alle Kinder sind krank, wir haben keine Milch für das Baby", schreibt er via Whatsapp.

Bakir und Zreak kennen sich nicht, haben aber mehr gemein, als ihnen lieb sein dürfte. Beide sind Mitte vierzig, beide stammen aus dem Süden der Provinz Idlib, der letzten in Syrien, die von Aufständischen kontrolliert wird. Beide sparten jahrelang ihr schmales Lehrergehalt, um ein Haus zu bauen, Ghada Bakir in Sarakib, Osama Zreak in Ariha. Und weil Machthaber Baschar al-Assad seinen Schwur, jeden Zentimeter syrischen Bodens wieder unter seine Kontrolle zu bringen, gerade mit aller Gewalt wahr macht, gehören sie beide nun zu den mittlerweile fast sieben Millionen Syrern, die im eigenen Land auf der Flucht sind.

In den vergangen zwei Wochen ist die Schlacht um die Provinz Idlib in Syriens Nordwesten voll entbrannt. An den Fronten sind Hunderte gefallen. Für die Zivilisten werden die Kämpfe zu einer humanitäre Katastrophe, wie es sie selbst im an Grausamkeiten reichen Syrienkrieg selten gab. Während es Bomben regnet, sind alle Auswege verschlossen. 3,5 Millionen Menschen, die teils bereits aus anderen Landesteilen geflohen waren, sind mit den Resten von Syriens säkularer Opposition und den dschihadistischen Milizen eingekesselt, die das Gebiet militärisch kontrollieren.

Die Strategie, mit der Damaskus und Moskau nun vorgehen, ist aus fast neun Jahren Krieg bekannt. Kampfjets bomben die Städte zu Schutt, sie zielen dabei auch auf Krankenhäuser, Bäckereien, Märkte. Hilfe wird verhindert, im UN-Sicherheitsrat blockierten Russland und China etwa vergangene Woche eine Resolution, die zur sofortigen Auslieferung von humanitären Gütern hätte führen sollen. Wenn Bomben und Hunger frontnahe Städte entvölkert haben, dann rücken Assads Truppen vor.

Es bleibt nur, wer kein Geld zum Fliehen hat, sagt Bakir

Seit Dezember sind 400 000 Menschen geflohen, zuletzt gaben jeden Tag Zehntausende ihre Häuser auf. Luftaufnahmen der Hauptverkehrsstraßen tragen apokalyptische Züge. Während der Rauch von Explosionen in den grauen Winterhimmel aufsteigt, versuchen scheinbar endlose Wagenkolonnen, in Richtung Norden zu gelangen. In ihnen standen auch Ghada Bakir und Osama Zreak, die Heimatorte der beiden liegen in der Nähe von Maarat an-Numan, das Assads Truppen am 28. Januar stürmten. Die Stadt liegt an einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt und war eine der Keimzellen der Revolution. Als das Regime vertrieben war, bauten Aktivisten hier eigene Institutionen auf, managten die Verwaltung und bewiesen so, dass Syrien ohne Assad besser sein könnte.

Osama Zreak mietete vergangene Woche drei Kleinlaster, um sein Hab und Gut wegzubringen, "350 Dollar hat das gekostet". Besitzer von Transportern oder Händler mit vollen Lagern nehmen nur noch harte Devisen, erzählt Zraek, und davon täglich mehr. Ghada Bakir hingegen packte nur das Nötigste ein, Konservendosen zum Essen, warme Kleidung, Decken. Sie war erst vor eineinhalb Jahren in das Haus eingezogen, erzählt sie am Telefon, zwanzig Jahre hatte sie dafür gespart. Das liebevoll bestückte Bücherregal, die Gitarre an der Wand, die bepflanzte Dachterrasse: "Meine Träume wohnten in jeder Ecke. Nun gehört alles der Vergangenheit an."

In ihrem Heimatort sei nur noch geblieben, wer kein Geld zum Fliehen habe, sagt Bakir. Und manche, die ihre Häuser verließen, hätten sie zuvor in Brand gesetzt; das belegen auch Videos in sozialen Medien. Die Eigentümer wollen Assads Truppen nichts zum Plündern hinterlassen und zudem vermeiden, dass bald andere einziehen. Dass das Regime Flucht und Vertreibung nutzt, um die demografische Balance zu verändern, behauptet die Opposition seit Langem. Auch Bakir spricht von einem "Konfessionskrieg", den Assad in Idlib "gegen Millionen Sunniten" führe. Tatsächlich gab es immer wieder Berichte, wonach das Regime in eroberten Orten Schiiten ansiedelte. Gemäß abgefangenen Funksprüchen, die vom britischen Telegraph analysiert wurden, werden auch in Idlib schiitische Milizionäre, etwa aus Afghanistan, von iranischen Kommandeuren mit religiösen Parolen in die Schlacht geschickt. Teherans für Auslandseinsätze zuständiger Kommandeur Qassim Soleimani ist tot, aber seine Strategie lebt weiter.

Millionen Syrer harren an der Grenze zur Türkei aus

Auf dem Weg nach Norden sei ihre Familie von türkischen Soldaten kontrolliert worden, sagt Bakir "Sie filzten unser Auto, brüllten uns an, behandeln uns, als wären wir Verbrecher". Als sie Idlib im Abkommen von Astana zu einer "Deeskalationszone" erklärten, vereinbarten die Türkei und Russland die Stationierung von Beobachtern. Mittlerweile aber stehen die Zeichen auf volle Eskalation, Präsident Recep Tayyib Erdoğan hat am Wochenende Kampftruppen nach Idlib verlegt, um die syrische Armee aufzuhalten - der Druck auf die türkische Grenze durch die anströmenden Flüchtlinge wird zu groß.

Dort hatte Ankara 2015 nach dem Flüchtlingsabkommen mit der EU eine streng bewachte Mauer bauen lassen. In deren Schatten harren zwei Millionen Syrer aus, in überfüllten Zeltlagern, auf Feldern. Unter ihnen kippe langsam die Stimmung, erzählt Bakir. "Die Menschen kämpfen um Decken, Gasflaschen, Essen, Medizin." Die Temperaturen erreichen nachts den Gefrierpunkt, seit Tagen regnet es. Am Sonntag versammelten sich Hunderte unter dem Motto "Von Idlib nach Berlin". Die Ankündigung eines Marsches der Verdammten war symbolisch, es blieb bei einer Demonstration, die von türkischer Seite mit Tränengas beschossen wurde.

Osama Zraek will erst einmal versuchen, einen Wassertank zu organisieren - und Holz, das ständig teurer wird. Bakir möchte in die Türkei fliehen - obwohl Videos belegen, dass die türkischen Gendarmen scharf schießen (Bericht unten). Sie habe sich zu laut gegen Assad gewehrt, Radiointerviews gegeben, auf Schulfesten gegen ihn gewettert - sie könne nicht bleiben. Früher habe man 2000 syrische Lira Schmiergeld an türkische Grenzbeamte gezahlt, heute seien es 2000 Dollar. Und selbst dann könne es lebensgefährlich werden. "Aber ich sterbe lieber durch eine türkische Kugel", sagt Bakir, "als mich von Assads Truppen in einen Folterkeller sperren zu lassen."

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