Ein Gespräch im Büro von di Lorenzo über seine Helden, Niederlagen und seine Heimat Italien
Es ist Buchmesse in Turin. Gastland in diesem Jahr: Deutschland. Eröffnet wird die Messe von Giovanni di Lorenzo. Im Interview spricht der deutsch-italienische Journalist über Literatur, die Mafia, Melancholie und warum wir heute ein absurdes Menschenbild leben.
Herr di Lorenzo, die Buchmesse in Turin steht unter dem Motto „Die Wunder Italiens". Was verbinden Sie damit?
Die größten Wunder Italiens sind für mich immer wieder die Momente von Zivilcourage - gegen jede Vernunft. Italien hat eine große Kultur des Zusammenhalts in der Familie, aber sehr wenig im Sinne von common sense. Dass es immer wieder Unternehmer, Richter und Journalisten gibt, die sich der organisierten Kriminalität entgegenstellen, ist für mich ein italienisches Wunder. Einige haben dafür mit ihrem Leben bezahlt. Der Autor Roberto Saviano zum Beispiel ist seit seinem Mafia-Buch „Gomorrha" ein gejagter Mann. Die Camorra will seinen Tod. Saviano ist ein persönlicher Freund. Er hat mich letztes Jahr an meinem Urlaubsort besucht. Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass er einmal ins Meer springen könnte.
Und, tat er es?
Es hat nur für ein durch Polizei abgeschirmtes Essen gereicht. Er hatte allerdings keine Angst vor der Mafia, sondern vor der Kultur der Denunziation, dass ihn jemand per Smartphone aufnehmen könnte und dazu schreiben, auf Kosten der Steuerzahler macht der Saviano sich ein schönes Leben. Da ist so eine Unkultur des Egoismus, der Propaganda und der Verdeckung wahrer Interessen, die seit der Ära Berlusconi um sich greift. Das ist die eigentliche Zerstörung dieses Landes.
Ist Saviano ein Held für Sie?
Diesen Tort möchte ich ihm nicht antun, denn er wehrt sich mit Händen und Füßen dagegen, als Held angesehen zu werden. Helden dürfen keine Fehler machen, sagt er, er ist aber jung und hat das Recht, alle Irrungen und Wirrungen dieser Welt mitzumachen, ohne das man ihm das verübelt. Aber er ist ein Vorbild für mich. Wobei Vorbild für mich immer nur für eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Aspekt gilt. Sonst überfordern wir jeden noch so vorbildhaften Menschen. Saviano trifft in Turin auf den Enthüllungsjournalisten Günter Wallraff.
Riskiert er mit seinem Auftritt auf der Messe etwas?
Sogar im Alltag hat er zehn Leibwächter. Ein Gejagter wie er ist überall gejagt. Die eigentliche Frage ist, ob sich die Camorra einen Anschlag leisten wollen würde, oder ob die staatliche Repression infolge eines Attentats nicht viel schlimmer wäre als jede Gefahr, die von Saviano ausgeht.
Apropos Literatur: Ein Buch, das Sie lieben?
Das Buch meines Lebens ist wohl Der Leopard von Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Das erste Mal habe ich den Roman mit 17 oder 18 gelesen und dann immer wieder mal. Selten hat ein Roman einen epochalen Umbruch, den Untergang der feudalen Klasse, so gut beschrieben. Und da ist so eine unglaubliche Kunst der Beschreibung, ein Jahrhundertroman.
Der wichtigste Satz daraus?
Natürlich der berühmte Satz des Fürsten. Sinngemäß: Man muss alles grundlegend verändern, damit es bleibt, wie es ist. Ein universal gültiger Satz, der alle Umbrüche überdauert. Ich glaube, er ist eher melancholisch gemeint als zynisch.
Auch der Titel Ihres neuen Interviewbuches klingt melancholisch: „Vom Aufstieg und anderen Niederlagen" - was fasziniert Sie an der Niederlage?
Ich habe mich gefragt: Nach welchen Kriterien sucht man Interviews aus 33 Jahren aus? Das wichtigste Kriterium war: Es muss heute noch spannend sein. Erst beim Aussuchen hat sich herausgestellt: Der rote Faden waren Menschen, die oft ein schweres Trauma oder eine schwere Niederlage erlebt hatten. Andere sprachen von ihrer Angst, diese Niederlage zu erleiden. Es gab immer wieder diese seltsame Nähe von Triumph und tiefstem Fall.
Sind das die Geschichten, die wir auch als Leser am liebsten lesen?
Natürlich, das ist der Stoff, von dem der Boulevard lebt, nicht nur die gehobene Belletristik. Wenn Sie so wollen, ist es das Leben. Durch das Lesen der Niederlage exorzieren wir auch ein Stück eigener Angst vor dem Scheitern. Im Moment orientiert sich der Zeitgeist ja an der Utopie des fehlerfreien Menschen. Heute steht man nach einer Niederlage viel schneller am Pranger als früher. Man müsste zurück zu einer Ermutigungskultur, Niederlagen und Fehler gehören zu jedem. Alles andere zementiert ein absurdes Menschenbild.
Haben Sie diesen schmalen Grat selbst erlebt?
Verglichen mit den extremen Niederlagen und Schicksalsschlägen, von denen im Buch die Rede ist, wäre es geradezu vermessen, meine Fehler damit zu vergleichen. Ich habe im Gegenteil beruflich viel Glück gehabt. Ich denke, wir brauchen wieder ein Menschenbild, das uns auch entspricht. Menschen können auf Zeit ein Vorbild sein oder auf gewissen Gebieten. Jetzt, wo wir am Ende aller Utopien angekommen sind, ist der fehlerfreie Mensch, glaube ich, die letzte Utopie, die aber auch scheitern wird.
Zurück zu Italien. Hat Italien überhaupt noch eine spannende intellektuelle Stimme?
Italien ist nicht so intellektuell, wie es in den deutschen Medien behauptet wird. Wahr ist aber auch, dass Italien in den Sechziger- und Siebzigerjahren ein magischer Magnet für Europas Kulturöffentlichkeit war. Dies ist leider verloren gegangen. Aber Nanni Moretti, Matteo Garrone und Paolo Sorrentino sind zum Beispiel ganz großartige Regisseure. Italien hat dann doch ein unerschöpfliches Reservoir an Kreativität und Talent.
Wann und wie lesen Sie?
Mein Tag beginnt um acht Uhr zu Hause mit Lektüre - und er endet auch wieder mit Lektüre. Am Ende steht dann meistens ein Buch, nicht einschlafen möchte ich über Magazinen und Zeitungen.
Ihre Lektüre gestern Nacht?
Da habe ich Helmut Schmidts neues Buch gelesen - und tatsächlich Dinge entdeckt, die ich nicht von ihm wusste. Davor das Reisetagebuch von Montesquieu; als erstes habe ich mich auf seine Tagebuchnotizen zu Hannover gestürzt, dort kam ich selbst mit elf Jahren an. Er war fasziniert von einer Maschine für eine Wasserfontäne. Ich glaube, Europa bereist zu haben muss als wacher Geist noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts ein Erlebnis von unfassbarer Schönheit gewesen sein ...
Was in ganz besonderem Maße für Italien gilt.
So plastisch wie Goethe hat kaum einer Italien beschrieben. Er hat Italien auch ziemlich gut getroffen. Natürlich auch mit Witz: Goethe klagte zutiefst über die Verschandelung Italiens durch moderne Architektur, und er meinte die barocke Architektur, die wir heute so sehr lieben. Goethe fragt tatsächlich auch einmal einen italienischen Wirt, wo er sich erleichtern könne: „Wo es Ihnen beliebt, mein Herr."
Auch Günter Grass war in Italien unterwegs ...
Ja, und das hat er bei unserem letzten Zusammentreffen auch erwähnt. Mit Grass hatte ich mal einen Zusammenstoß, weil ich sein Israel-Gedicht nicht abdrucken wollte. Das hat er mir sehr übel genommen. Kurz vor seinem Tod konnten wir zum Glück noch einmal sprechen. Er hat eine sehr eindrucksvolle Blattkritik bei uns gehalten. Ich bin glücklich, dass es zu dieser Versöhnung kam. Wir hatten in der Zeit auch das letzte Interview mit ihm, darin beschreibt er Schmerz als den Motor seines Schreibens.
Was ist Ihr Motor? Gibt es ein Buch, das Sie unbedingt schreiben wollen?
Als Journalist beschreiben wir höchstens den Status Quo einer großen Hoffnung - der, etwas zu verändern. Aber ja: Es gibt tatsächlich eine Buchidee, die sogar mit Italien zu tun hat. Mehr sage ich aber lieber nicht, der Aberglaube ist ein Rest meiner italienischen Wurzeln.
Haben Sie Schreibrituale?
Mir fällt das Schreiben eigentlich an jedem Ort schwer. Ich kann mit dem Begriff der Qual durchaus etwas anfangen.
Eine Anekdote zu Turin?
Ein Onkel von mir arbeitete in der Nähe von Turin als Manager bei Olivetti. Das ist leider ein Teil Italiens, den ich zu wenig kenne. Ich freue mich auf die Stippvisite bei der Buchmesse und ein Gespräch mit meinem Freund Saviano. Und ich hoffe, dass Juventus Turin, meine Lieblingsmannschaft, bis dahin auch das Rückspiel gegen Real gewinnt.
Das Interview führte Stefanie Maeck im Pressehaus in Hamburg
14. Mai 2015
Internationale Buchmesse TurinZum ersten Mal präsentiert sich Deutschland als Ehrengast auf dem Salone Internazionale del Libro di Torino (14. bis 18. Mai 2015): 25 deutsche Autoren werden Deutschland vertreten und das Gespräch mit ihren italienischen Lesern suchen, am deutschen Gastlandpavillon werden 43 deutsche Verlage ihre Novitäten ausstellen. Der deutsche Gastlandauftritt wird von der Frankfurter Buchmesse und den italienischen Goethe-Instituten organisiert. Den Eröffnungsvortrag wird Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit halten. Di Lorenzo wuchs in Rom und Hannover aus. Der 56-Jährige zählt zu den renommiertesten Journalisten Deutschlands.