Warum Peter Rist seinen Job als Finanzbürgermeister kündigt, um Schlagersänger zu werden
Es ist eine regnerische Nacht im Sommer 2009, in der Finanzbürgermeister Peter Rist, 42, langsam zum Schlagersänger wird. Den ganzen Tag wieder nur Zahlen und Fakten. Als er vom Reutlinger Rathaus zu seiner Wohnung läuft, ist es schon dunkel. Er hat sich erneut über den Stadtrat geärgert. Er summt eine Melodie in sein Handy, die ihm im Finanzausschuss eingefallen ist: ein Lied für seine Frau. Auch den Refrain hat er schon: "Nur mit Dir, ja das geht nur mit Dir/ Jeden Tag spüre ich es mehr, geb´ Dich nie wieder her, denn Du bist für mich da, so werden Wunder erst wahr ..."
Zwei Jahre später kündigt Rist seinen Job. Er, der oberste Hüter der kommunalen Finanzen, will nicht mehr rechnen, will nicht mehr die Schulden der Stadt addieren, nicht mehr jeden Morgen die Aktenordner aus dem Schrank ziehen. Der Finanz- und Wirtschaftsbürgermeister von Reutlingen, Chef im Dezernat II, Besoldungsgruppe B5, Jahresgehalt um 100.000 Euro, Wochenstunden nicht unter 70, hat was anderes vor. Er, der einen Jahresetat von 325 Millionen Euro verwaltet, will nicht für eine zweite Amtszeit kandidieren. "Sächlicher Verwaltungs- und Betriebsaufwand" heißen die hässlichen Begriffe seiner Vergangenheit oder "Erschließung von Fördermitteln für laufende Sanierungsmaßnahmen." Die Titel auf seiner ersten CD klingen viel schöner: "Gewinnerglück", "Schalalalalala", "Mein Glücksstern" und vor allem: "Jetzt oder nie".
Saft statt BohnenkaffeeRist sitzt in seinem Büro, Zimmer 997, dritter Stock im Rathaus am Oskar-Kalbfell-Patz. Ein Betonklotz ohne Poesie und ohne Küsse. Es riecht nach Bohnenkaffee, obwohl Rist nur Milch und Saft mag, im Vorzimmer tippen seine Sekretärinnen. An der Decke hängt eine Energiesparleiste, vor dem Fenster Sichtgardinen, die auch tagsüber geschlossen sind. An der Wand ein Kalender: "Alles hat seine Zeit." Vielleicht besonders die Zeit, in der Rist als Finanzbürgermeister schon mal zur Sekttaufe einer Lilie antreten musste, wie bei der Gartenmesse dieses Jahr, sicher aber jene Zeit, in der Gemeinderatssitzungen ihm einfach nur die Zeit stahlen.
Rists Haare haben leuchtende Reflexe. Das Lachen ist eine Spur spitzbübisch, charismatische Fältchen haben sich in die Bräune des Allgäus geschoben. Noch trägt er einen dunklen Anzug und Krawatte, doch auf seiner Fanseite im Internet sieht man ihn in zünftiger Lederhose, strahlend wie ein Bub. Im Internet kursiert ein Video, da singt der Bürgermeister vor Fachwerkskulisse - der SWR hat es gefilmt, Rist trägt seine schwarze Lederjacke: ein bisschen rockig, ein bisschen sanft und wirft die Arme so dramatisch in Schräglage, als wolle er direkt in den Schlagerhimmel einfliegen: "Sag, was kostet die Welt/ Mit allem Drum und Dran/ Das kann so viel nicht sein/ Ich schenke sie Dir/ Und gebe alles dafür."
Bodensee und AlphornEin Sekretärinnentraum, ein Schwiegermuttertraum. Ein Albtraum für Reutlinger Politiker.
Immer hat er funktioniert. Hat Verwaltungswirt gelernt, war Steuerprüfer und der jüngste Kämmerer im Allgäu, bevor sie ihn zum Finanzbürgermeister in Reutlingen wählten. Mit 115.000 Einwohnern immerhin eine Großstadt. Seine Welt bestand aus Zahlen und Fakten. Sogar seine Frau ist Verwaltungsfachangestellte. "Immer dieses Pseudorationelle", sagt Rist heute und verzieht das Gesicht. Rist schwärmt von den vielen Grüntönen im Allgäu, wo die Eltern auf 900 Metern den Berggasthof "Pauli's Bier-Bar" betreiben. Peter Rist kann man nicht ohne das Allgäu verstehen, nicht ohne die Sonne auf dem Bodensee, die vibrierenden Klänge des Alphorns. Schön sei das, "Sie können sich das nicht vorstellen, Sie würden ohnmächtig werden", sagt Rist, dann stellt er einen tragbaren CD-Player auf den Tisch und drückt auf Play: Eine bombastische Melodie schwebt zur Zimmerdecke, vor dem Rathaus brummen Müllfahrzeuge. Der Bürgermeister reckt den Hals, seine Lippen formen den Text. "Das ist ein schönes Lied", sagt er. "Das wird den Menschen gefallen." Rist plant die Bühnenshow zu seiner CD "Willkommen im Leben". Er könnte sich vorstellen, dabei in einem Himmelbett zu liegen, "am Anfang sitze ich, dann stehe ich". Am 19. November hat er für die Premiere die Stadthalle gemietet und als Zugabe wird der Finanzbürgermeister "Hier bei Euch" singen, ein Lied für seine Reutlinger.
Langweilige Sitzungen als KreativitätspoolAn diesem Nachmittag muss Rist mit der Aktenmappe zur Gemeinderatssitzung, es geht um Bäume im Bürgerpark, um Hunde, die nicht angeleint sind und um Lieferwagen, die die Einkaufsstraße zuparken. Er läuft durch die grauen Betongänge im Rathaus, hin zum Großen Ratssaal, huscht hinter der Oberbürgermeisterin in die Sitzung. Setzt sich auf dem Podium neben die Baubürgermeisterin, hält den Kopf gesenkt, macht Notizen für seine Sekretärinnen. Er wirkt abwesend. Manchmal kommen ihm hier die besten Ideen.
Vor einiger Zeit hat Rist den Produzenten von Florian Silbereisen überredet, sein erstes Lied in einem Münchner Studio aufzunehmen. "Nur mit Dir". Als er das Lied seiner Frau und seinen Gästen auf der Geburtstagsparty seiner Frau vorspielt, fließen Tränen. Seine Frau ordnet an, erst mal zehn Minuten das Licht auszulassen. Auch der Produzent findet: "Du singst gut." "Stell dir mal vor, wenn ich auch noch üben würde", antwortet Rist.
Die Presse fordert AmtsverzichtDie Zeiger der Amtsuhr rücken auf halb acht. Rist sagt in der Gemeinderatssitzung zu Tagesordnungspunkt 11/098/01: "Ordnung soll nicht herrschen, Ordnung soll dienen." Es geht um den kommunalen Ordnungsdienst. Kurz vor acht lässt Rist beim Gähnen die Hand weg. Wäre dies ein Comic, wäre der Moment gekommen, indem über seinem Kopf grüne Allgäuwiesen und ein Alphorn auftauchten.
Nächster Morgen: Es ist spät geworden. Der Bürgermeister lässt den Rechner hochschnurren. Er öffnet das E-Mail-Fach und ruft: "Google-Alert!" Doch der Dienst informiert ihn nur darüber, was ein Lokaljournalist vom "Schwäbischen Tagblatt" über ihn geschrieben hat: von den über 100 Millionen Schulden der Kommune, von einem Bürgermeister, der von Freiheit schwärme und "einfachste Schlagermaßstäbe an das reale Leben" anlege und natürlich von der Autogrammstunde, die Rist in den kommenden Tagen in einem Drogeriemarkt der Stadt geben will. Rist solle auf sein Amt verzichten.
"Ein realisiertes Risiko"Rist muss grinsen, gerade hat er das Foto fürs Plakat tauschen lassen. Das neue ist besser. Wenn der Schreiber wüsste, dass sein Gesicht in wenigen Tagen in der ganzen Stadt hängen wird. "Der würde durchdrehen." Es ist ihm egal, was sie im Rathaus oder in den Redaktionen über ihn denken. Die Mieslinge im Rathaus können ihn nicht verstehen. Bald wird er unter die Autogrammkarten in Schönschrift ein gefühlvolles Peter setzen und mit Stars auftreten, die Sigrid & Marina oder die Klostertaler heißen. Er wird keinen Anspruch auf eine stattliche Pension haben, wie etwa nach einer zweiten Amtszeit, nur einen normalen Rentenanspruch. Doch auf all das pfeift er: "Wirtschaftlich gesehen ist es schon ein realisiertes Risiko", sagt der Finanzbürgermeister. "Das Haben spielt sich derzeit auf einer anderen Seite ab: Bald kann ich wirklich sagen - willkommen im Leben!"
Rist drückt noch einmal auf die Play-Taste: Der Liedtext ist ihm angeblich während der Haushaltssitzung zugeflogen, genau in jenem Moment, als der Stadtkämmerer den aktuellen Schuldenstand verkündete. Rist sagt: "Vielleicht sollte ich nicht verraten, wo mir das eingefallen ist." Sag was kostet die Welt ... mit allen Drum und Dran. Er lehnt sich zurück, schließt eine Sekunde beim nächsten Refrain die Augen: "Frei, frei, frei, unendlich frei." Die Müllautos brummen immer noch.