SPIEGEL ONLINE: Herr Ayan, Sie schreiben in Ihrem Buch "Lockerlassen", dass wir einer Art Bewusstseinsfimmel verfallen sind.
Ayan: Heute wollen doch alle alles noch achtsamer und bewusster tun. Wir wollen achtsam essen, bewusst kommunizieren und natürlich wollen wir auch bewusst entspannen. Ein wahrer Bewusstseinskult und eine ständige Konzentration auf das Ich sind die Folge, wobei manche ziemlich verbissen wirken. Viele Menschen suchen nach Rezepten, wie sie alle Lebensbereiche und sich selbst optimieren können. Das ist an sich ja verständlich. Aber heute herrscht die Ansicht, allein durch die richtige Bewusstseinshaltung könne man sein Denken und Fühlen komplett im Griff haben. Die ständige Selbstaufmerksamkeit schadet jedoch oft mehr, als dass sie hilft.
SPIEGEL ONLINE: Was kritisieren Sie genau?
Ayan: Bei den meisten Ratgeber- und Coachingangebote wie auch beim Businesscoaching soll alles bewusst gesteuert werden. Würde man all die Empfehlungen beispielsweise zur richtigen Körpersprache ernst nehmen, würde man gar nichts mehr hinbekommen. Denn unsere Aufmerksamkeit ist viel beschränkter als wir glauben: Wenn man sich auf etwas konzentriert, klappt vieles nicht mehr, das man automatisch oder intuitiv macht. Wir können uns gar nicht komplett mental kontrollieren. Ich denke, viele versuchen nicht zu wenig, sondern zu verbissen, alles zu steuern und erleben gerade dadurch Misserfolge. Sie blockieren sich selbst.
SPIEGEL ONLINE: Wir sind besser, wenn wir uns weniger Gedanken machen?
Ayan: Ja, in der Kognitionswissenschaft ist dies als paradoxer Effekt des Denkens bekannt. Je stärker ich mental fokussiere, desto schlechter werden gewisse Ergebnisse. Das gilt natürlich nicht immer, aber öfter als wir glauben! Lasse ich dagegen los und wende ich mich etwas anderem zu, kommt plötzlich ein guter Gedanke, eine Problemlösung. Ein anderes Beispiel sind Schmerzen: Lenken wir unsere Aufmerksamkeit darauf, nimmt der Schmerz nicht etwa ab, sondern zu. Genauso kann zu viel Selbstaufmerksamkeit schaden. Der Fokus auf das Ich, auf Effizienz und Kontrolle, verhindert, dass wir in den Flow kommen und Glücksmomente empfinden.
SPIEGEL ONLINE: Viele Menschen versuchen, ihr wahres Selbst zu ergründen. Mit Hyperselbstaufmerksamkeit verfehlt man sich aber, schreiben Sie.
Ayan: Ja, auch bei dem Versuch, ganz bei sich zu sein, ist Konzentration aufs Ich oft hinderlich. Untersuchungen dazu, wann sich Menschen besonders authentisch fühlen, zeigten: Es sind Momente, in denen sie in der Gemeinschaft aufgehen. Authentizität ist eine soziale Konstruktion und wird nicht so sehr durch bewusstes Nachdenken erreicht.
SPIEGEL ONLINE: Kann übertriebenes Fokussieren auf das Selbst auch psychische Störungen hervorbringen?
Ayan: Sagen wir, es kann sie zumindest verstärken. Depressive oder Angstpatienten lenken ihre Aufmerksamkeit beispielsweise stark nach Innen. Sie glauben, sie müssten sich nur noch besser im Griff haben. Das Anspruchsdenken geht so weit: Wenn du nur die optimale Technik hast, kannst du alles hinkriegen. Das ist eine Konstellation, die unglücklich macht, wenn es mit der Technik eben doch nicht klappt. Würden diese Menschen die Aufmerksamkeit nach außen richten, auf genussvolles Tun etwa oder auf Dinge, die sie ablenken, ginge es ihnen vermutlich schon etwas besser.
SPIEGEL ONLINE: Selbstoptimierung soll zu einem glücklichen und schönen Leben führen.
Ayan: Viele Studien deuten in eine andere Richtung: Wer dem Glück hinterherrennt, verfehlt es eher. Statt so viel Aufhebens darum zu machen, sollten wir lieber Gelegenheiten schaffen, dass es unseren Weg kreuzt. Viele Entdeckungen und Glücksfälle des Lebens passieren nebenbei, ohne dass wir aktiv danach suchen. Serendipität heißt das Phänomen, wenn wir Bedeutsames finden, auf das wir nicht aus waren. Zum Beispiel schicksalhafte Begegnungen: Wer hat seinen Partner schon gefunden, weil der ein optimales Matching-Profil hatte? Mit rationaler Methodik und Kontrolle das Glück zu erzwingen, funktioniert selten. Wer lockerlässt, ist für die Gunst des Augenblicks offener. Das gilt übrigens auch fürs Denken: Wenn wir banale Dinge tun, spazieren gehen oder tagträumen, fallen uns unverhofft Lösungen ein.
SPIEGEL ONLINE: Würde es auch helfen zu akzeptieren, dass ein ständiges Optimum nicht möglich ist?
Ayan: Akzeptanz und die Einsicht, dass nicht alles kontrollierbar ist, helfen sehr viel. Unser Leben wird dann gut, wenn wir uns Humor und Ironie bewahren. Und wenn wir uns immer wieder für Dinge begeistern und dabei uns selbst vergessen können.
SPIEGEL ONLINE: Wie sieht eine akzeptierende Haltung aus?
Ayan: Nehmen wir ein Beispiel: Hadere ich etwa mit mir, weil ich glaube, nie schlagfertig im Gespräch mit dem Chef zu sein, kann ich natürlich ein Coaching machen. Ich kann mich aber fragen, ob das wirklich so wichtig ist. Coaches, die damit hausieren, dass man alles aus sich herausholen soll, lenken unseren Fokus oft übermäßig auf Probleme und Schwächen. Psychologen konnten zeigen: Wer das alltägliche Glück sehr wichtig nimmt, hat seltener Glücksgefühle. Akzeptanz und Lockerlassen helfen ironischerweise mehr, sich gut zu fühlen - und auch mal schlagfertig zu sein.
SPIEGEL ONLINE: Was halten Sie von selbstbestärkenden Mantren, die man sich in Stresssituationen aufsagen soll?
Ayan: Um sich für ganz bestimmte Herausforderungen zu motivieren, ist das prima. Sportler arbeiten damit ja auch, um sich mental zu stärken: Du schaffst das! Aber wenn man seinen ganzen Alltag in Mantren packt, kommt es leicht zur "Überdosierung". Wenn man für alles einen Spruch braucht, fragt man sich vielleicht, welcher denn jetzt der richtige ist. Das ist genau der Punkt: Wer die mentale Optimierung zu wichtig nimmt, erreicht das Gegenteil. Sie hemmt die Spontaneität und ist im Alltag oft kontraproduktiv. Der totale Bewusstseinskult hilft uns nicht, sondern schränkt uns ein.