Videospiele sind das neue Heilmittel gegen psychische Krankheiten, mentales Unwohlsein und Schmerzen. Das glaubt jedenfalls das amerikanische Unternehmen Akili Interactive. Es investiert in eine "neue Generation des Gesundheitswesens, das innovative, klinisch geprüfte Methoden nutzt, um etablierte medizinische Praktiken und Behandlungsmethoden zu ersetzen", wie es auf der Seite der Lobbyorganisation Digital Therapeutics Alliance heißt. Oder anders gesagt: Es geht um Games auf Rezept.
Wie das aussehen kann, zeigt Akili Interactive in seinem Videospiel Project: Evo. Es soll die Symptome einer ADHS-Erkrankung mindern und Betroffenen eine erhöhte Konzentrationsfähigkeit antrainieren. Hierfür werden die Gehirnströmungen des Spielers gemessen, während er eine farbenfrohe Rennsimulation spielt. Das Videospiel liest dann über dieses Neurofeedback die Hirnleistung des Spielers aus und modifiziert die Level in Echtzeit, um das Gehirn zu fordern.
Laut Unternehmen sei die finale Studie im Dezember 2017 mit knapp 400 Teilnehmern erfolgreich verlaufen - die vollständigen Ergebnisse der Studie legte das Unternehmen allerdings noch nicht vor. Als nächsten Schritt soll das Videospiel dem amerikanischen Gesundheitsministerium zur Prüfung vorgelegt werden, um Project: Evo möglichst bald als rezeptpflichtige Medizin vertreiben zu können. Weitere Prototypen zur unterstützenden Behandlung von autistischen Menschen und Patienten mit Angststörungen hat Akili Interactive bereits in Arbeit.
Wenig Hoffnung, viele BedenkenIst die Videospielmedizin also schon angekommen? Johannes Streif, Diplompsychologe und Vorstandsmitglied des Vereins ADHS-Deutschland, ist im Gespräch mit ZEIT ONLINE kritisch. Das liege vor allem an einem ganz grundsätzlichen Nachteil von Videospielen im Kontext einer medizinischen Behandlung: "Digitale Spiele können die Aufmerksamkeit des spielenden Kindes selbst nur mittelbar erfassen und letztlichen nicht spezifisch auf die besondere Veranlagung und das Verhalten des Spielenden reagieren." Was ein Patient in diesen abstrakten, therapeutischen Spielen also lernt, lasse sich nicht so einfach auf die realen Alltagssituationen außerhalb der Spielewelten übertragen. Die Lektion mache Spaß, biete aber keinen Langzeitnutzen.
Diese Kritik des Experten bezieht sich vor allem auf klassische Videospiele, die bereits seit rund 15 Jahren - auch in Deutschland - zur Behandlung von ADHS-Erkrankungen bei Kindern entwickelt werden. Akili Interactive kennt diese Problematik ebenfalls, weshalb Project: Evo die neurologische Reaktion des Patienten beim Spielen misst und sich den Bedürfnissen und Leistungen der Spieler anpasst. Durch diese dynamischen Veränderungen der virtuellen Lernumgebung soll die Hirnleistung, insbesondere die kognitiven Fähigkeiten, optimal trainiert werden. Ob dem so ist, müssen nun unabhängige Fachleute überprüfen.
Medizin für die digitale GenerationDass Akili Interactive und andere Firmen und Gesundheitslobbys jetzt den Markt neu für sich entdecken, hat gute Gründe: "Aus wirtschaftlicher Sicht macht das durchaus Sinn: Sie eröffnen ein neues Geschäftsfeld, sollte die Verschreibung von Medikamenten irgendwann ausgereizt sein oder in manchen Ländern eingeschränkt werden", sagt Streif. So erschließen die Konzerne neue Käuferschichten, gerade auch unter den Kritikern der medikamentösen Therapie, aber auch in Kreisen, die für vermeintlich pädagogisch-therapeutisch wertvolle Hilfsmittel viel Geld ausgeben.
Nach der Prognose von Johannes Streif wird sich die digitale Medizin auf dem Rücken der digitalisierten Welt, die Videospielen weitaus aufgeschlossener gegenübersteht als noch vor 15 Jahren, rasch in Schulen, Nachmittagsbetreuungen und therapeutischen Praxen durchsetzen - unabhängig davon, ob die Behandlung durch ihre Produkte wirklich so effektiv ist wie versprochen.
"Mit dem Ansatz, Computerspiele in die ADHS-Therapie miteinzubeziehen, verbinde ich wenig Hoffnungen, jedoch viele Bedenken. Die Hoffnung ist, dass geeignete Feedback-Verfahren es ADHS-Betroffenen in Zukunft erlauben, gezielter als bisher die Steuerung ihrer Aufmerksamkeit zu trainieren", sagt Streif. Nur, wenn es den Patienten gelinge, den Lernerfolg in einer Simulation auch auf unterschiedlichste Alltagssituationen zu übertragen, könne die Behandlung als erfolgreich gewertet werden - ihm sei allerdings bis heute kein Videospiel bekannt, dass diese Herausforderung im Sinne der Patienten gemeistert habe.