WELT: Herr Maas, Sie kommen aus der Grenzregion zu Frankreich. Wie unterscheidet sich die deutsch-französische Freundschaft von der deutsch-polnischen?
Heiko Maas: Der grundsätzliche Unterschied ist, dass man in Deutschland über Polen viel weniger weiß als über Frankreich. Und das wird auch in Polen so wahrgenommen: Dass wir nicht nur für Polen kein Interesse, sondern auch keine Ahnung haben von Polen. Besonders sensibel für viele Polen ist, wie wenig hier gesehen wird, welche Verbrechen Deutschland gegen die polnische Bevölkerung unabhängig von der Religionszugehörigkeit begangen hat.
WELT: Deutschland hat auch durch seine Russlandpolitik, die warnende Stimmen aus Polen und Osteuropa beständig überhört hat, massiv Vertrauen verspielt. Wie konnte es so weit kommen?
Maas: Ich würde sagen, dass da auch machtpolitische Zwänge im Spiel gewesen sind. Die Größe und die Macht Russlands auf der Weltbühne hat dazu geführt, dass man ganz praktisch versucht hat, dort, wo man die Russen gebraucht hat, sie auch einzubeziehen. Und Russland wurde bei vielen Themen gebraucht; die Verhandlung zum Atomabkommen mit dem Iran ist nur ein Beispiel. Und deswegen hat sich die deutsche Außenpolitik sehr oft damit auseinandergesetzt, wie das deutsch-russische Verhältnis ist - völlig unabhängig davon, was das für Polen bedeutet. Die Sensibilitäten der osteuropäischen Partner wurden häufig nicht ausreichend einbezogen. Man hat zu wenig erklärt, wieso, weshalb, warum.
WELT: Eine wesentliche Rolle dabei spielte die Annahme, dass Russland durch Zusammenarbeit mit dem Westen nach und nach den Weg zur Demokratie fände. War die „Wandel-durch-Handel"-Strategie nicht hoffnungslos naiv?
Maas: Dass man diesen Versuch unternommen hat, halte ich nach wie vor für nachvollziehbar. Das Wesen der Diplomatie besteht ja nicht darin, sich nur mit denen zu treffen, mit denen man sowieso einer Meinung ist. Es geht darum, sich insbesondere mit denen auseinanderzusetzen, mit denen es schwierig ist. Und das ist so bei Russland der Fall gewesen - leider auch manchmal mit etwas zu großer Naivität. Aber letztlich ist es Aufgabe der Diplomatie, nach Lösungen zu suchen, wie man international ein gedeihliches Zusammenleben organisieren kann.
WELT: Der Vorwurf ist ja, dass es schon lange vor dem 24. Februar 2022 ersichtlich gewesen sei, wohin Russland steuert.
Maas: Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass man die deutsche Russlandpolitik auch kritisch danach überprüfen sollte, ob man denn den Zielen wirklich nähergekommen ist. Dafür bin ich viel kritisiert worden. Dennoch würde ich nicht sagen, dass man das alles hätte voraussehen können. Den russischen Angriffskrieg gegenüber der kompletten Ukraine im Nachhinein als absehbar darzustellen, halte ich für überzogen.
WELT: Die SPD gilt als maßgeblicher Vorantreiber der Nähe Deutschlands zu Russland. Ist Ihr Parteihintergrund ein Hindernis für Ihr Amt als Vorsitzender des Deutschen Polen-Instituts?
Maas: Sicher hat die SPD die deutsche Russlandpolitik in den letzten Jahrzehnten ganz wesentlich mitgestaltet. Aber sie war ja dabei nicht allein. Natürlich hat das Bundeskanzleramt die Außenpolitik auch wesentlich geprägt, als Frau Merkel Bundeskanzlerin war. Und Frau Merkel hatte immer einen sehr kooperativen Ansatz, auch gegenüber Russland. Ob mein parteipolitischer Hintergrund jetzt ein Problem ist - ich hoffe es mal nicht. Während meiner Zeit als Außenminister habe ich mich sehr um die deutsch-polnischen Beziehungen bemüht und mich für das geplante Mahnmal in Berlin zur Erinnerung an die polnischen Opfer im Zweiten Weltkrieg eingesetzt. Ich habe mich auch immer dagegen gewehrt, Polen nur auf die PiS-Regierung zu reduzieren und neben Frankreich kein Land so oft besucht wie Polen. Ich bin ganz zuversichtlich, dass das in Polen noch nicht in Vergessenheit geraten ist.
WELT: Wie haben Sie das Ergebnis der Parlamentswahlen in Polen aufgefasst?
Maas: Ich bin eine Woche vor den Wahlen in Breslau gewesen, und so wie ich die Stimmung wahrgenommen habe, hatten die Leute einfach die Nase voll. Sie hatten genug von der Polarisierung, von dem ganzen Hass, den die PiS in der politischen Auseinandersetzung ausgebreitet hat. Der Machtwechsel ist jetzt eine große Chance nicht nur für Polen, sondern für die Neubelebung der deutsch-polnischen Beziehung und dafür, Polen als aktiven Player in der Europäischen Union zurückzugewinnen. Wobei ich glaube, dass die neue Regierung natürlich bei der innenpolitischen Aufarbeitung auch sehr, sehr sensibel vorgehen muss, um eben nicht in die Falle zu tappen, dass die PiS nur noch von Hexenjagd spricht. Aber ich glaube, das ist den Verantwortlichen durchaus bewusst.
WELT: Wie soll man damit umgehen, dass Polen gespalten bleibt - und das für Deutschland vielleicht befremdliche patriotische Lager eine maßgebliche Rolle in der Gesellschaft spielt?
Maas: Es ist ja keinesfalls so, dass keiner mehr die PiS gewählt hat, sondern sie ist immer noch stärkste Partei geworden. Auch das Stadt-Land-Gefälle in Polen muss man sehen. Die innenpolitische Auseinandersetzung in Polen wird weitergehen - hoffentlich innerhalb des Rahmens, den die Demokratie vorgibt. Ich hoffe, dass es der neuen Regierung gelingt, Polen innenpolitisch zu befrieden, zumindest mittel- und langfristig. Mein Eindruck ist, dass sich die Menschen nicht mehr darauf einlassen wollen, dass die Auseinandersetzung so polarisierend, so voller Hass und Hetze geführt wird. Allerdings, wenn ich mir die Umfrageergebnisse der AfD i n den ostdeutschen Bundesländern und auf Bundesebene anschaue, sollten wir nicht zu sehr nur mit dem Finger auf andere zeigen. Auch in Deutschland haben wir einiges zu tun.
WELT: War es in der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit ein Fehler, dass man seit der Wende vor allem auf ähnlich tickende, werteliberale zivilgesellschaftliche Akteure gesetzt hat, die aber in Polen nur einen Teil der Öffentlichkeit ausmachen?
Maas: Natürlich kann man den Dialog nur mit denen führen, die zu ihm bereit sind. Aber ich stimme dieser These voll und ganz zu und halte es für einen großen Fehler, diejenigen, mit denen es einfach schwierig ist, komplett auszublenden. Der Dialog muss immer ein gesamtgesellschaftlicher sein und eigentlich ist er nötiger gegenüber denjenigen, mit denen es schwierig ist, als mit denjenigen, mit denen man ohnehin auf einer Wellenlänge ist.
WELT: Sind die Hoffnungen, dass jetzt unter Donald Tusk alles glatt und gut wird, keine Illusion? In vielen Fragen hat Tusk deutlich andere Ansichten als die Bundesregierung. So hat Tusk kürzlich angekündigt „keinen einzigen" Migranten durch EU-Umverteilung aufzunehmen.
Maas: Es ist auf jeden Fall eine Illusion zu glauben, dass man jetzt in allen Fragen einer Meinung sein wird. Die neue Regierung muss sich natürlich auch mit der gesellschaftlichen Lage in Polen auseinandersetzen - und den Gruppen, die ihr nicht gewogen sind - wenn sie die Polarisierung und das Lagerdenken zumindest entschärfen will. Ich bin davon überzeugt, dass die deutsch-polnischen Beziehungen jetzt besser werden, aber einfach wird es nicht.
WELT: Die Erwartungen in Polen an die von Olaf Scholz verkündete Zeitenwende sind sehr hoch - ebenso die Skepsis, ob Deutschland die Ankündigungen auch wahr macht. Sehen Sie Deutschland da auf dem richtigen Weg?
Maas: Ich glaube nicht, dass es bei Ankündigungen bleibt. Deutschland hat sich klar dazu bekannt, sicherheitspolitisch eine deutlich aktivere Rolle in Europa und der Nato zu spielen. Dem ein oder anderen geht sie vielleicht nicht schnell genug, aber von der beschlossenen Zeitenwende gibt es kein Zurück mehr. Im Übrigen: Dass polnische Politiker in der Vergangenheit Deutschland dafür kritisiert haben, dass seine Militärausgaben nicht hoch genug sind, beweist, wie intensiv und vertrauensvoll unsere freundschaftlichen Beziehungen geworden sind. Das wäre in der Vergangenheit völlig unvorstellbar gewesen.
Der SPD-Politiker Heiko Maas war von 2018 bis 2021 deutscher Außenminister. Ende 2022 legte Maas sein Bundestagsmandat nieder und trat anschließend in eine Berliner Anwaltskanzlei ein. Seit 2024 ist Maas Präsident des Deutschen Polen-Instituts, das sich für den zivilgesellschaftlichen Dialog zwischen Polen und Deutschland einsetzt. Zum Original